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Wolfgang Lötzsch
* 18. Dezember 1952 in Chemnitz
Radsport
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2012
Der verhinderte Radstar
Wolfgang Lötzsch, eines der größten Radsport-Talente der DDR, durfte nie bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften starten. Stattdessen drangsalierte ihn die Stasi. Im November 1971 berief man den dreifachen Spartakiadesieger und vierfachen DDR Juniorenmeister in den Kader für die Friedensfahrt 1972 und die Olympischen Spiele in München, aufgrund politischer Bedenken wurde Wolfgang Lötzsch jedoch wenig später aus dem Sportclub Karl-Marx-Stadt „ausdelegiert“. Gründe waren Kontakte zu Westverwandten – ein Cousin hatte sich 1964 in den Westen abgesetzt –, die Weigerung, in die SED einzutreten und Fluchtgerüchte. Er wurde aus dem staatlichen Fördersystem ausgeschlossen, durfte nur noch in einer Betriebssportgemeinschaft (BSG) starten – die Rückstufung zum Hobbysportler.
Lötzsch trainierte auf eigene Faust weiter und hatte Erfolge, 1973 und 1974 gewann er die DDR-Meisterschaft in der Einerverfolgung. 1976 bezwang er im Ausscheidungsrennen für die Olympischen Spiele die gesamte DDR-Spitze. Daraufhin schuf man eine „Lex Lötzsch“: BSG-Fahrer durften gegen Clubfahrer nicht mehr starten. Lötzsch resignierte, stellte seinen ersten von sechs Ausreiseanträgen, woraufhin er seinen Studienplatz verlor. In der BRD-Vertretung in Berlin ersuchte er um Hilfe, nahm Kontakt zu West-Medien auf. Die Stasi bekam Wind davon. Wie Lötzsch nach der Wende erfuhr, umfasste seine Akte mehr als tausend Seiten. 1976 wurde er wegen „Staatsverleumdung“ zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt und bis 1979 gesperrt.
Doch all die Jahre hatte er weiter trainiert und erreichte auch Siege, etwa 1983 beim Klassiker Rund um Berlin. 1983 trat er doch noch der SED bei („ich wollte einfach meine Ruhe haben und Rad fahren. Ärger hatte ich all die Jahre genug“). Ab Dezember 1989 startete Lötzsch für den RC Hannover, gewann 1990 im 100-Kilometer-Straßenvierer die Deutsche Meisterschaft. Im Sommer 1995 beendete er mit 42 Jahren seine Karriere und arbeitet seitdem als Mechaniker für Profiteams. Am Tag der Einheit 1995 erhielt er für seine Zivilcourage das Bundesverdienstkreuz. Zehn Jahre später schrieb Die Zeit: „Es gibt Wissende, die halten Wolfgang Lötzsch für den größten deutschen Renner aller Zeiten, noch vor Rudi Altig, Olaf Ludwig, Täve Schur“. Im Juli 2008 kam der Film „Sportsfreund Lötzsch“ in die deutschen Kinos, der das Leben des Radsportlers in der DDR thematisiert.
Größte Erfolge:
› Deutscher Meister 100-km- Mannschaftsfahren 1990
› Sieger Rund um Berlin 1983
› DDR-Meister Einerverfolgung 1973, 1974
› Vielfache Platzierungen bei DDR Meisterschaften
Auszeichnungen:
› Bundesverdienstkreuz (1995)
Der verhinderte Radstar
Friedensfahrtsieger, Weltmeister und Olympiasieger hat er besiegt. Doch nie bekam er die Chance, einer von ihnen zu werden. Wolfgang Lötzsch aus der einstigen Karl-Marx-Stadt Chemnitz war der Verlierer einer Kraftprobe, zu der ihn die DDR, in der er lebte, herausgefordert hatte. Sportorganisation und Staatssicherheitsdienst schlossen ihn vom Leistungssport aus, brachen und änderten die Regeln, um ihn zu benachteiligen, als er sich nicht ausschließen ließ, und warfen ihn ins Gefängnis. Doch er besiegte, wie zum Trotz, ihre Diplomaten im Fahrradsattel, einerlei ob auf der Bahn oder auf dem Kopfsteinpflaster der DDR-Straßenrennen. Fast jeder seiner 550 Siege war deshalb auch ein Akt der Opposition. Bei Radsportfans, Konkurrenten und Trainern hatte „der Lange“ einen Ruf wie Donnerhall – obwohl das Regime ihn zur Unperson machen wollte, deren Existenz und Erfolge totgeschwiegen wird.
Flucht kam für Lötzsch nicht in Frage. Er wusste, dass der Staatssicherheitsdienst seinen Eltern, in deren Haus er lebte, das Leben zur Hölle machen würde. Entnervt trat er 1985 in die SED ein. Doch erst als 1989 die Mauer fiel, durfte Lötzsch die Rennen bestreiten, die ihm vorher verboten waren. Zwar wurde der Sachse mit 37 Jahren im Team von Hannover noch Deutscher Meister im Mannschaftszeitfahren, gewann die Bundesligawertung und bestritt Rundfahrten in der Schweiz und am Mittelmeer. Doch die großen Rennen, die er hätte gewinnen, zumindest hätte mit bestimmen sollen, erlebte er bestenfalls als Mechaniker mit.
Selbst als Helfer im Overall war Lötzsch kein Glück beschieden. Ein Herzinfarkt zwang ihn, sich zu schonen. Dann beendete der Dopingskandal um Jan Ullrich und das Team Deutsche Telekom die Leidenschaft des deutschen Publikums für den Radsport. Fernsehen und Sponsoren zogen sich zurück, Rennen und Teams starben. Lötzsch war, wieder einmal, arbeitslos.
Wolfgang Lötzsch, Jahrgang 1952, galt als einer der begabtesten Radrennfahrer der DDR, eines der größten Talente Deutschlands mit einer Ausstrahlung weit über seinen Wirkungskreis und seine Zeit hinaus. „Mit eisernem Willen habe ich eines der ausgefuchstesten Sportsysteme der Welt in Atem gehalten und beherrscht“, erinnert er sich stolz. Er war zu stark, als dass die Staats- und Sportführung der DDR ihm erlaubt hätte, die Nationalmannschaft des Klassenfeindes zu stärken. „Wir lassen uns von dir doch nicht die Medaillen wegschnappen“, sagte ihm ein Offizier der Staatssicherheit. Lötzsch war aber auch zu stark, um dem Druck des Regimes auszuweichen. Ihn trieb die Motivation, es „denen“ erst recht zu zeigen. Radrennen zu fahren würde er nie aufgeben. „Das Schöne daran ist, dass man sich mal richtig in die Fresse hauen kann“, sagt er. Lötzsch quälte sich auch, um zu verhindern, dass andere ihn quälten. Als Lötzsch 1976 in Leipzig DDR-Meister in der Einzelverfolgung wurde, forderten Hunderte auf der Radrennbahn in Sprechchören, ihn zu den Olympischen Spielen nach Montreal zu schicken. Wenn es einen Moment gab, in dem der Lack abplatzte von der sogenannten Sportnation DDR, dies war er: Der Stärkste wurde krass benachteiligt, und alle sahen es.
Durch 2000 Seiten Akten des Staatssicherheitsdienstes quälte sich Lötzsch nach dem Fall der Mauer. Darin ist protokolliert, wie er einen Teil seines Lebens verlor: Aufnahmen aus der abgehörten Wohnung seiner Eltern; Tonbandmitschnitte von Gesprächen, in denen Spitzel ihn zum Fluchtversuch überreden sollten; Vernehmungsprotokolle zu seinem Wutausbruch gegenüber Volkspolizisten: „Hier ist sowieso alles Scheiße“; die Verurteilung wegen sogenannter Staatsverleumdung; Anweisungen, ihn während der zehnmonatigen Haft so zu behandeln, dass er nie mehr würde Höchstleistung bringen können; Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Sein resignierter Eintritt in die Partei. Sein verzweifelter Hilferuf bei den Korrespondenten westlicher Medien in Ost-Berlin. Sie machten seinen Fall bekannt und schützten ihn damit womöglich vor weiteren Repressalien. Und schließlich die Anweisung des Stasi-Ministers Mielke, ihn auf keinen Fall nach dem Westen ausreisen zu lassen.
Fünfzig Inoffizielle Mitarbeiter bespitzelten Lötzsch, zusätzlich zu den zwanzig hauptamtlichen, die mit seinem Fall betraut waren. „Ich habe den Staat sehr viel Geld gekostet“, sagt er wie ein Radprofi, der seinen Wert am Salär bemisst. Einer der Spitzel war sein Trainer Roland Kaiser. „Er hat mir nicht geschadet“, sagt Lötzsch, „aber er hätte dazu beigetragen.“ In den neunziger Jahren führte Kaiser als Fachwart im Sächsischen Radsportverband Aufsicht über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Lötzsch; er genehmigte die Freistellung, wenn Lötzsch als Mechaniker auf Friedensfahrt ging.
Heute stellt sich der unbeugsame Kämpfer gelegentlich für historische Veranstaltungen zur Verfügung. Dann diskutiert er mit Schülern in einer früheren Kaserne der Grenztruppen oder führt sie durch das einstige Stasi-Gefängnis auf dem Kaßberg in Chemnitz, wo er einsaß. „Ich interessiere mich eigentlich nicht für Politik“, sagt Lötzsch, und das gilt bis heute. „Ich war eigentlich auch nicht gegen die DDR. Aber die haben das nicht kapiert.“ Jungen Sportlern wolle er mitgeben, dass man auch ohne Hilfe Erfolg haben könne, wenn man nur wolle, sagt er. Und Mädchen und Jungen wolle er mitgeben, dass man sich auch gegen ein übermächtig erscheinendes System wehren könne, dass man nicht zerbrechen müsse unter dessen Druck. „Sie sollen lernen, dass die Diktatur des Proletariats vor allem eine Diktatur war“, erinnert er. „Das darf man nicht unter den Teppich kehren und vergessen.“
Warum damals alles so kam, kann sich Lötzsch bis heute nicht erklären. Jemand muss einen Zusammenhang konstruiert haben zwischen der Forderung des Vaters Lötzsch, der Junge solle erst einen Beruf lernen, bevor er sich dem Leistungssport widme, und der Weigerung des Sohnes, im Olympiajahr 1972 in die Partei einzutreten. Der Vater war schon dadurch verdächtig, dass er nicht in einem volkseigenen, sondern in einem der letzten Privatbetriebe arbeitete. Jemand muss einen Zusammenhang konstruiert haben zwischen der Existenz eines in den Westen geflohenen Cousins von Lötzsch und der Flucht des Eiskunstläufers Günter Zöller, der wie Lötzsch dem Sportclub Karl-Marx-Stadt angehörte. „Die brauchten einen Sündenbock“, vermutet Lötzsch. Er wurde aus dem Sportclub ausgeschlossen. Als dann ein Trainer behauptete, der Radrennfahrer habe Verbindungen in den Westen und es bestehe Fluchtgefahr, schaltete sich die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes in Berlin ein. Als er einen abfälligen Satz über die DDR machte, nachdem ein Volkspolizist ihm wegen angeblicher Ruhestörung bei einem Polterabend ein Bußgeld aufgebrummt hatte, wurde er verhaftet. Justiz, Sport und Geheimdienst versuchten, den unbeugsamen Athleten zu brechen.
Lötzsch war nie vergessen. Zum Respekt von Konkurrenten, Betreuern und Beobachtern kam sechs Jahre nach dem Fall der Mauer der des Staates. Bundespräsident Roman Herzog verlieh Lötzsch am Tag der Deutschen Einheit 1995 in Schloss Bellevue das Bundesverdienstkreuz. Der Oberbürgermeister von Chemnitz versprach vor tausenden Zuschauern, dass Lötzsch immer Arbeit haben werde, solange er im Amt sei. 2004 veröffentlichte Philipp Köster seine 250 Seiten starke Biographie „Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents“. Drei Jahre später hatte in Leipzig der Dokumentarfilm „Sportsfreund Lötzsch“ von Sandra Prechtel und Sascha Hilpert Premiere. Das aus zeitgenössischen Rennaufnahmen und Gesprächen mit Zeitzeugen montierte Werk gewann den Publikumspreis.
Als die Stiftung Deutsche Sporthilfe im Mai 2008 in Berlin ihre Hall of Fame mit den ersten vierzig Mitgliedern vorstellte, unter ihnen als einziger Sportler aus der DDR der Schwimmer Roland Mattes, sagte der Theologe Rainer Eppelmann – auch er in der DDR verfolgt und im vereinten Deutschland Vorsitzender der Stiftung Aufarbeitung – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Ein Westdeutscher kann nicht nachempfinden, was es für einen Ostdeutschen bedeutet hat, eingesperrt zu sein. Von daher kann er auch nicht beurteilen, wie teuflisch die Verführung war: Du kannst Reisekader werden, du kannst einer von den ganz, ganz wenigen in der DDR werden, der als junger Mensch die Welt sehen darf. Dafür wollen wir außer deinem Talent, das wir fördern, dass du uns öffentlich lobst und mit uns zusammenarbeitest. Man muss fast schon ein Heiliger sein, um dem zu widerstehen. Nehmen Sie den Radrennfahrer Wolfgang Lötzsch: Er fiel wegen verwandtschaftlicher Beziehungen in den Westen in Ungnade und wurde verfolgt. Er gehört in die Ruhmeshalle des deutschen Sports, obwohl er keine einzige Medaille bei Olympia oder Weltmeisterschaften gewonnen hat. Die SED-Spitze hatte ihm dazu die Chance verbaut.“
Im Mai 2012 folgte die Jury der Stiftung Deutsche Sporthilfe dem Rat und nahm Lötzsch, gemeinsam mit der 98 Jahre alten Hochspringerin Gretel Bergmann-Lambert, mit dem Philosophen und Ruder-Olympiasieger Hans Lenk sowie mit Antje Harvey-Misersky und Henrich Misersky in die Hall of Fame auf. Sie alle wurden weniger für ihre sportliche Leistung als für die Menschlichkeit geehrt, die ihre Biografien beispielhaft aufzeigen: die jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann dafür, dass der Sport des Nazi-Deutschlands sie, eine der Favoritinnen, von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin ausschloss, Tochter und Vater Misersky für ihren Widerstand gegen das systematische Doping im Leistungssport der DDR, Lenk für seine Kritik am unbedingten Erfolgsstrebens und der Unterhaltung durch Zirkusspiele, und Lötzsch für seinen einsamen Kampf unter einem feindseligen Regime.
Der lange Chemnitzer hatte, als er von seiner Berufung in die Hall of Fame erfuhr, eine Beschäftigung bei der Bayern-Rundfahrt in Aussicht. Eigentlich war er froh um jeden Job. Doch er zog die Ehrung in Berlin vor. „Das kommt nie wieder“, sagte er. „Die Bayern-Rundfahrt kommt wieder.“ Als Zeichen der Achtung und der Anerkennung seines eisernen Willens verstehe er die Aufnahme in die Hall of Fame mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Staates, der ihm den Inhalt seines Sportlerlebens raubte, sagte er.
Michael Reinsch, Mai 2012
Literatur zu Wolfgang Lötzsch:
Philipp Köster: Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. Bielefeld 2004
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Katarina Witt
* 03. Dezember 1965 in Staaken
Eiskunstlauf
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2010
Weltstar auf und neben dem Eis
Katarina Witt ist eine der erfolgreichsten Eiskunstläuferinnen der Geschichte und ein Weltstar. Neben den beiden Olympiasiegen 1984 in Sarajevo und 1988 in Calgary war sie viermal Weltmeisterin und zweimal WM-Zweite. Zwischen 1983 und 1988 gewann sie sechsmal in Folge die Europameisterschaft. Ende 1988 startete sie eine Profikarriere, drehte 1989 ihren ersten Film „Carmen on Ice“ und bekam dafür 1990 den Emmy, den wichtigsten amerikanischen Fernseh-Preis. Als Eiskunstlauf-Profi war sie mit allen großen Tourneen der Welt unterwegs. 1994 nahm sie in Lillehammer noch einmal als Amateurin an Olympischen Spielen teil und wurde Siebte. Erst im März 2008 beendete sie ihre sportliche Karriere auf dem Eis mit einer Abschiedstournee. Das US-amerikanische Time-Magazin betitelte Katarina Witt einst als „schönstes Gesicht des Sozialismus“. Während und nach ihrer sportlichen Karriere erhielt sie eine Vielzahl an Auszeichnungen. 2005 gründete Katarina Witt eine nach ihr benannte Stiftung. Damit unterstützt sie vorrangig die Mobilität von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung. Katarina Witt war Vorsitzende des Kuratoriums für die Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele 2018.
Größte Erfolge:
› Olympiasiegerin 1984 und 1988
› Weltmeisterin 1984, 1985, 1987, 1988
› WM-Zweite 1982, 1986
› Europameisterin 1983, 1984, 1985, 1986, 1987, 1988
Auszeichnungen:
› Goldene Sportpyramide (2010)
› Goldenes Band der Berliner Sportjournalisten (2009)
› Deutscher Nachhaltigkeitspreis für soziales Engagement (Sport-Bild, 2008)
› Bild-Osgar (2007)
› „Blaues Herz“ für Kinderfreundlichkeit (2006)
› Aufnahme in die Hall of Fame der International Women’s Sports Foundation (2005)
› Women’s World Award (World Business Award, 2004)
› Goldene Henne (Super Illu, 2003)
› Deutschlands Eisläuferin des 20. Jahrhunderts (1999, Sportmagazin Kicker)
› Aufnahme in die World Hall of Fame des Eiskunstlaufs (1995)
› Goldene Kamera (1994)
› Emmy-Fernsehpreis (USA, 1990)
› Jacques Favart-Trophy (höchste Auszeichnung des Weltverbands, 1989)
› Olympischer Orden des IOC (1988)
› Bambi (1988)
› DDR-Sportlerin des Jahres (1984)
› Vaterländischer Verdienstorden der DDR in Gold (1984)
› Goldenes Band der Sportpresse (2009)
Weltstar auf und neben dem Eis
Mit ihrer Offensive des Lächelns gewann sie fast immer und überall. Ihr Charme, ihr Witz, ihre Natürlichkeit haben Katarina Witt zu einer Unabhängigkeit verholfen, die sie über ein turbulentes, abwechslungsreiches, meist erfolgreiches Leben getragen hat – auch in den Jahren ihrer Wanderschaft zwischen der DDR und dem wiedervereinten Deutschland. Die zweimalige Olympiasiegerin, viermalige Weltmeisterin und sechsmalige Europameisterin im Eiskunstlauf war immer mehr als nur eine höchst ansehnliche Protagonistin ihres Sports, die der DDR zugeordnet wurde. Sie selbst prägte die Agenda kraft ihrer Persönlichkeit, auch wenn andere glaubten, mit ihr für sich selbst und ihre politisch-ideologischen Botschaften werben zu können. Und so war es kein Zufall, dass Katarina Witt eine ihrer schönsten Schaulaufnummern dem Musical „Elisabeth“ entlehnte. Sie schwebte darin zu dem Song „Ich gehör’ nur mir“ über das Eis und war in diesen Momenten wie so oft, wenn sie in ihrem Element war, ganz bei sich selbst.
Die in Staaken bei Berlin am 3. Dezember 1965 geborene und im damaligen Karl-Marx-Stadt aufgewachsene und sportlich sozialisierte Tochter eines Agronomen und einer Physiotherapeutin verkörperte bei ihren Auftritten eine unbeirrbare Bodenständigkeit, die sich mit einer Aura von Welt verband. Dass das amerikanische „Time Magazine“ sie einmal zum „schönsten Gesicht des Sozialismus“ adelte, zeigte jenseits aller schwärmerischen Attribute auch, wie wichtig es der alles andere als weltoffenen DDR war, sich mit dieser jungen Frau propagandistisch zu schmücken, um so Sympathiepunkte für das eigene mausgraue Regime zu sammeln. Doch „die“ Witt ließ sich nicht vereinnahmen: nicht von einem Regime, dem sie als früheres SED-Mitglied nie opponierte, nicht von ihrer strengen Trainerin Jutta Müller, der sie eine ebenbürtige, gleichstarke Partnerin war, nicht von den Männern, mit denen sie liiert war, und auch nicht von den Regelhütern ihres Sports, die sie notfalls zu becircen wusste. Katarina Witt entwickelte ein Autonomiebedürfnis, das sie sich mit ihren Erfolgen und ihrem Charisma erkämpfte, das sie scheinbar schwerelos auch in schweren Zeiten behauptete.
Auf dem Eis setzte sie, wenn es eng wurde und die Konkurrenz ihre Chance witterte, die Waffen einer Frau ein und überstrahlte so ihre gelegentlichen Schwächen bei den Dreifachsprüngen. Zur Überfliegerin des Eiskunstlaufs stieg sie deshalb auf, weil das, was damals noch B-Note hieß und unter dem Begriff „künstlerischer Wert“ bisweilen sehr subjektiv benotet wurde, ihre Domäne war. Choreographie, Kostüme, Schminke, Musik: Katarina Witt präsentierte sich als Gesamtkunstwerk und siegte mit der Chuzpe einer von sich überzeugten Athletin. Mochte auch das sportliche Potenzial ihrer damaligen Widersacherinnen, voran die Amerikanerin Debi Thomas, ähnlich groß sein: Gegen die Willenskraft der Katarina Witt und ihre Professionalität, die eigenen, betörenden Qualitäten bis zur Neige auszuschöpfen, kamen sie nicht an. Während Debi Thomas, die 1988 in ihrer Kür bei den Olympischen Winterspielen in Calgary wie die Deutsche als „Carmen“ auftrat, an diesem Rollenspiel zerbrach und nur Dritte wurde, triumphierte die feurige sächsische „Carmen“ in ihrem roten Festkostüm noch einmal mit Grandezza und eroberte wie 1984 in Sarajevo die Goldmedaille. „Nervosität und Energie in Aggressivität verwandeln“, das konnte sie, wie sie selbst einmal sagte, in dieser Sportart des schönen Scheins wie nach ihr keine zweite Kunstläuferin. Wegen ihrer Fähigkeit, sich auf den Punkt konzentrieren zu können, bestand sie schließlich auch ihr letztes olympisches Abenteuer 1994 in Lillehammer, als sie es sechs Jahre nach ihrem Rücktritt vom Wettkampfstress noch einmal wissen wollte und gegen weit jüngere Konkurrentinnen einen aller Ehren werten siebten Platz belegte. Danach tourte sie wie in der Zeit davor über die Eisbahnen in aller Welt als Königin der Eisshows. Auch dieser Teil ihrer außergewöhnlichen Lebenslaufbahn trug denkwürdige Züge, ließ doch die DDR-Staatsführung ihre Meisterin des Eises nach Jahren voller Titel und Medaillen 1988 gen Zürich ausreisen, wo Katarina Witt der Revue „Holiday On Ice“ ihr eigenes Glanzlicht aufsetzte.
Abseits ihrer Bühne verwandelte sich Katarina Witt im Laufe der Jahre zu einer geschäftstüchtigen Frau, die immer wieder überraschende Pointen zu setzen verstand. Mal trat sie in Filmen wie „Carmen On Ice“ auf, mal noch zu DDR-Zeiten in bundesdeutschen Talksshows, mal als Buchautorin („Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür“), mal als Nacktmodel im binnen kürzester Zeit ausverkauften „Playboy“. Das Fernsehen bot ihr die Möglichkeit, Shows wie „Stars auf Eis“ zu moderieren oder als Eiskunstlauf-Expertin die Übertragungen von Weltmeisterschaften oder Olympischen Winterspielen anzureichern. Dazu warb Katarina Witt für große Unternehmen und entwarf ihre eigene Schmuckkollektion. Die Frau blieb bis heute im Gespräch und im Geschäft. Derzeit ist die Berlinerin so etwas wie eine Wahl-Münchnerin, da sie als Kuratoriumsvorsitzende der Münchner Olympia-Bewerbung für 2018 aktiv unterwegs ist.
Sich einzumischen, gehörte immer zum Selbstverständnis dieser sehr temperamentvollen Frau, die in Berlin mit ihren Eltern unter einem Dach lebt. Dabei musste sie in den Jahren der Wende und der Wiedervereinigung auch viel Kritik einstecken, weil sie nicht sogleich der politischen Korrektheit genügen und von ihrer DDR-Vergangenheit abrücken wollte. Viele ihrer Landsleute im Osten Deutschlands hielten sie damals trotzdem für zu westlich, so mancher Westdeutsche störte sich an ihrer jahrelangen Nähe zu den DDR-Machthabern. Katarina Witt selbst überlächelte auch diese schwierige Phase ihrer kunterbunten Vita, in der sie vor allem als Begünstigte der Zeitläufe dastand. Dabei hat sie letztlich immer das gemacht und gesagt, wonach ihr der Sinn stand. Ein homo politicus im engeren Sinne ist sie nie gewesen, eher eine fröhliche Lebensspielerin, die sich in veränderten Verhältnissen rasch zurechtfand und ihren alten Freunden immer treu blieb. Es passte zu ihrem unangepassten Naturell, dass sie den Amerikanern, die sie in den Jahren des deutschen Um- und Aufbruchs sogleich zu einem „Freiheitssymbol“ ausriefen, ein grobes Missverständnis der Wirklichkeit vorhielt.
„Ich gehör’ nur mir“ – das Liedmotto, nach dem sie sich auf dem Eis um ihre eigene Achse drehte, behauptete sie auch gegenüber den Nachstellungen der Stasi, die 27 Aktenordner mit 3103 Seiten über sie führte. Die DDR-Regenten, angeführt von ihrem obersten Fan, dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, fürchteten seit Mitte der achtziger Jahre, dass ihr Sportstar, der nichts Duckmäuserisches an sich hatte, eines Tages die Gelegenheit zur Republikflucht nutzen würde. Da kannten sie aber Katarina Witt schlecht. „Sie hatten Angst, dass ich abhaue, aber ich wollte nicht abhauen“, hat die ob ihrer Erfolge und ihres globalen Ruhms auch im realen Sozialismus erkennbar privilegierte Sportlerin einmal gesagt.
Sie durfte sich schließlich mit dem Segen von oben zwischen den Welten bewegen, als sie ihr sportliches Soll übererfüllt hatte. Eine wie sie war 1988 nicht länger in engen Grenzen zu halten, und ein Jahr später fiel dann auch die Mauer in der inzwischen maroden DDR. Katarina Witt hatte sich, je weiter sie als herausragende Sportlerin in der Welt herumgekommen war, desto mehr von den piefigen Obrigkeiten ihres sterbenden Staates emanzipiert. Alles unter Kontrolle? Mit solchen timiden Gedanken, sich selbst vor Überraschungen zu schützen, konnte sie in ihrem Drang, das Leben und die Länder jenseits ihrer Heimat kennen zu lernen, nichts anfangen. Jenen guten Bekannten, die sie damals rund um die Eishalle am Chemnitzer Küchwald penibel observierten, hat sie längst verziehen.
Als Katarina Witt endlich so frei war, sich von den Zwängen zu lösen, die sie nicht über die Maßen beschwerten, hat sie nicht triumphiert. Sie hat es auf ihre Weise getan: unangestrengt, charmant, selbstverständlich und mit einem Lächeln auf den Lippen. Das Leben, so scheint es, ist für Katarina Witt eine einzige Kür.
Roland Zorn, Mai 2010
Literatur zu Katarina Witt:
Katarina Witt: Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür. München 1994
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Steffi Graf
* 14. Juni 1969 in Mannheim
Tennis
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2008
Deutschlands Tennis-Liebling
Steffi Graf ist eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen der Sportgeschichte und die beliebteste deutsche Sportlerin. Zwischen 1986 und 1999 gewann sie 107 Tennis-Turniere, darunter 22 Grand-Slam-Titel, wurde Olympia-Siegerin und führte 377 Wochen lang die Tennis- Weltrangliste an. In den 16 Jahren ihrer internationalen Karriere wurde sie fünfmal zu Deutschlands „Sportlerin des Jahres“ gewählt. Mit 30 Jahren erklärte sie im August 1999 ihren Rücktritt vom Wettkampfsport. Im Oktober 2001 heiratete sie ihren amerikanischen Tennis-Kollegen André Agassi. Mit den 2001 und 2003 geborenen Kindern lebt das Paar heute in Las Vegas. Steffi Graf ist Gründerin und Vorsitzende der Stiftung „Children for Tomorrow“, die sich um traumatisierte Kinder in aller Welt kümmert. Außerdem ist sie Mitbegründerin des Franchise-Unternehmens „Mrs. Sporty“. In ihrer Tennislaufbahn wurde die in Brühl bei Mannheim aufgewachsene Steffi Graf siebenmal als „ITF World Champion“ und achtmal als „Spielerin des Jahres“ ausgezeichnet. 1988 wurde sie auch „Weltsportlerin des Jahres“. Seit 2004 ist sie Mitglied der International Tennis Hall of Fame.
Größte Erfolge:
› 22 Grand-Slam-Titel:
· Siebenmal Wimbledon (1988, 1989, 1991, 1992, 1993, 1995, 1996)
· Sechsmal French Open (1987, 1988, 1993, 1995, 1996, 1999)
· Fünfmal US Open (1988, 1989, 1993, 1995, 1996)
· Viermal Australian Open (1988, 1989, 1990, 1994)
› Masters-Siegerin (1987, 1989, 1993, 1995, 1996)
› Olympia-Gold (1988)
› Federation Cup-Siegerin (1987, 1992)
› Insgesamt 107 Turnier-Siege
› 377 Wochen die Nummer 1 der Weltrangliste
Auszeichnungen:
› Goldene Sportpyramide (2008)
› Deutscher Medienpreis (2008)
› Ehrenbürgerin des Landes Baden-Württemberg (2004)
› Aufnahme in die International Tennis Hall of Fame (2004)
› Olympischer Orden des IOC (1999)
› Deutscher Fernsehpreis (1999)
› Weltsportlerin des Jahres (1988)
› Fünfmal Sportlerin des Jahres (1986, 1987, 1988, 1989, 1999)
Deutschlands Tennis-Liebling
Als sie damals erklärte, sie wolle die Nummer eins werden, war sie gerade vierzehn Jahre alt – ein schüchternes Mädchen mit den Ecken und Kanten eines Teenagers und schönen blonden Haaren. Es gab damals auf der Welt sicherlich eine Million junger Mädchen, die alle den gleichen Wunsch hegten. Der jungen Steffi Graf schien die Sache mit der Nummer eins vielleicht doch ein wenig zu hoch gegriffen – es klang wie eine Entschuldigung, als sie hinzufügte, dass sich das viele Trainieren ja auch einmal lohnen müsse. Es war nicht auszuschließen, dass ihr die Aussage zwischen Trotz und Verlegenheit ein bisschen peinlich war. Stefanie Maria Graf hat nie ihr Herz auf der Zunge getragen.
Wenn man der Legende Glauben schenkt, hat der Tennislehrer-Vater irgendwann um 1973 an einem leichten Schläger den Griff verkürzt, um es der Vierjährigen etwas leichter zu machen. In der Familiengeschichte heißt es weiter, dass man im Wohnzimmer des Reihenhauses im badischen Brühl das Sofa beiseiteschob, und sich den Ball darüber zuschupfte. Es ist einigermaßen fraglich, ob diese Übungen der Mutter Heidi besonders gefielen. Es ist mitunter nicht ganz leicht, die Grenzen solcher wunderbaren Geschichten zu erkennen, weil sie lange her sind. In der Vergangenheit verklären sich manche Begebenheiten zu bedeutungsschweren Taten. Das kommt gerade in der Entwicklung junger Sportler nicht selten vor. Das ist immer jener Punkt, an dem die Eltern eine entscheidende Rolle in der Entwicklung spielen.
Die Zahl jener Fälle, in denen selbst das talentierteste Kind in einem bestimmten Alter den Spaß an den ewig gleichen Übungen verliert, ist sehr groß. Steffi Graf verlor nicht die Lust daran. Sie wurde zur besten Tennis-Athletin der Welt – sie behielt diese Position von 1987 bis 1995 insgesamt 377 Wochen lang. Im modernen Sport gibt es den allgewaltigen Computer, der so etwas berechnet. Eine solche Serie besteht nur zum geringsten Teil aus Siegerehrungen, sondern hauptsächlich aus unermüdlicher Arbeit. Sie wurde zum Star, ob sie wollte, oder nicht – eine attraktive junge Frau, die erkennen musste, dass einer, der sein Geld mit der Öffentlichkeit verdient, diese Öffentlichkeit manchmal auch erdulden muss. Steffi Graf wurde zur Nummer drei in der Welt, als sie noch kein einziges Turnier gewonnen hatte. Die beiden älteren Damen vor ihr – die herbe Martina Navratilova und die lebenslustige Chris Evert – lösten sich mit ihrer Herrschaft ein Jahrzehnt lang ab. Steffi Graf zerstörte diese Herrschaft im August 1987 in Los Angeles, als sie bei dem Turnier dort im Endspiel erstmals gegen Chris Evert gewinnen konnte.
Derartige Details liefert der Computer bis in alle Ewigkeit. Aber er sagt nichts darüber, dass die Jüngere die immer erschöpfter aussehende Evert über den Platz jagte – er sagt auch nichts über den länger werdenden Schatten in dem kleinen Stadion, auch nichts über Glück und Pech. Was dort geschah war weiter nichts als ein Generationswechsel, wie er im Sport alltäglich ist. Für die Deutschen war es ein bisschen jener Stolz und jenes Anteilhaben, die sich immer einstellen, wenn ein Landsmann – Landsfrau hier – etwas Ungewöhnliches vollbringt. Egal, ob es sich um den Gewinn einer Fußballmeisterschaft oder eine olympische Ehrung handelt. Es gehört auch zu den Alltäglichkeiten, dass die abgesetzten Herrscher – Herrscherinnen hier – sofort erklären, dass es sich nur um einen vorüber gehenden Zustand handelt – dass sie bei nächster Gelegenheit den kleinen Lapsus wieder ausbügeln würden. Aber das „they never come back“ gilt im Sport fast immer. Steffi Graf wurde zu einer Königin von großer Ernsthaftigkeit – stets auf Distanz bedacht, was ihre Anhänger mitunter sogar irritierte. Als sie einmal in Hamburg ein Endspiel für sich entschied, forderte ein Zuschauer sie auf, „lach doch mal“. Ihre Antwort war so schnell wie einer von diesen Returns: „Soll ich lachen oder soll ich Tennis spielen!“ Es war eine außerordentlich typische Reaktion für die beste deutsche Spielerin aller Zeiten – sie wird immer zu den größten Sportlerinnen gehören.
Das Jahr 1988 war sicherlich das glanzvollste unter den glanzvollen: In Melbourne siegte sie im Finale wieder über Chris Evert. In Paris überließ sie der armen Russin Natalia Zwerewa im Finale kein einziges Spiel – ein „zu null“ hatte es in der Schlussrunde nie zuvor bei einem Grand Slam-Turnier gegeben. Im Endspiel von Wimbledon schien es, als ob Martina Navratilova die Zeit anhalten könnte, als sie mit 7:5, 2:0 führte. Dann begann das, was viele Menschen heute noch für das beste Tennis auf Rasen anerkennen. Steffi Graf gewann den zweiten Satz 6:2, den dritten 6:1. Das vierte Grand Slam-Turnier in New York holte sie sich über die Argentinierin Gabriela Sabatini. Wenige Tage später flog sie nach Korea, wo in Seoul die Olympischen Spiele begannen. Sie sagte, sie sei sehr müde.
Sie sagte später, sie habe Olympia sehr genossen. Sie traf auf einmal Sportler, mit denen sie sonst nur die Zeitungsseite teilte. Dieses Zusammentreffen von Boxern mit Reitern, Läufern mit Schwimmern, Schützen mit Ringkämpfern ist eines der vornehmen und logischen Ziele dieser Spiele. Sie entdeckte, wie es ist, im Olympischen Dorf zu wohnen und im Speisesaal in einer langen Reihe mit den anderen zu stehen. Olympische Dörfer sind so etwas wie eine große Jugendherberge – lärmig, spartanisch, gesellig. Für die Tennisspieler, die erstmals seit 1924 wieder um olympische Medaillen kämpften, war es eine seltsame Erfahrung: Sie waren es gewohnt, geräumige Hotelsuiten zu bewohnen, ausgewählte Mahlzeiten serviert zu bekommen – angenehme Rücksichten entgegengebracht zu erhalten.
Sie hatten ganz in der Nähe des Olympischen Dorfes ein Dutzend Tennisplätze angelegt mit einem stumpfen Gummiboden sowie einen hübschen Centre Court. Die Bälle bezog man von einem einheimischen Hersteller, der so etwas nie zuvor gemacht hatte. Die Spieler waren nicht besonders glücklich darüber. Steffi Graf allerdings geriet nur im Viertelfinale gegen die stämmige Russin Larissa Sawtschenkow einmal kurz in Rückstand. Das Endspiel gewann Steffi Graf wieder wie so oft gegen Gabriela Sabatini. Sie musste nachher keine Rede halten über die besten Organisatoren, oder den spendablen Sponsor, über die tapfere Gegnerin, über die fairen Zuschauer – sie musste auch nicht das übliche Versprechen ablegen, im nächsten Jahr wieder zu kommen. Man hisste die Fahne, spielte die Hymne und der deutsche Olympier Willi Daume überreichte ihr die goldene Medaille. Drei Stunden später saß sie im Flugzeug nach Hause. Sie hatte das gewonnen, was man in alle Zukunft als „Golden Slam“ bezeichnen wird. Wenn überhaupt: Es wird lange dauern, bis es eine Wiederholung gibt.
Vielleicht hätte sie noch eine ganze Weile mit den Besten spielen können, aber irgendwann machten sich Schmerzen bemerkbar, die sie vorher nie spürte. Es gab monatelange Pausen, neue Anläufe, neue Pausen. Sie war nun – dreißigjährig – bei den Jüngeren die ‚alte Dame’. Es war schwer, den Spaß zu behalten, wenn die Sehnen wehtun. Nach über einem Jahrzehnt machte sie die gleiche Erfahrung, die einst ihre Vorgängerinnen machen mussten. Der Vater, der einst keinen Fehler machte, als er seine Teenager-Tochter an die Spitze lenkte, geriet mit den Steuerbehörden aneinander und wurde verurteilt. Der Computer stellte Einnahmen aus dem Preisgeld in Höhe von über zwanzig Millionen Dollar fest – ohne die Summen aus der Werbung. Sie flüchtete vor der Öffentlichkeit. Es war keine gute Zeit für die Familie Graf, die einst aus dem badischen Brühl hinaus in die Welt zog.
Stefanie Graf, die nie mit den Medien paktierte und deren persönliche Integrität nie in Frage stand, erhielt schließlich noch einmal die ganz großen Schlagzeilen, als sie mit einer sehr persönlichen Nachricht überraschte – sie heiratete den Amerikaner André Agassi, der ebenfalls ein Tennisspieler der höchsten Klasse war. Sie haben sich in Las Vegas niedergelassen und ziehen zwei Kinder auf.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Steffi Graf:
Rolf Hauschild, Hansjörg Falz: Danke, Steffi: Die unvergesslichen Jahre der Königin des Centre Court. Berlin 1999 Doris Henkel: Steffi Graf (Superstars des Sports). München 1993
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Dr. Reiner Klimke
* 14. Januar 1936 in Münster
† 17. August 1999 in Münster
Reitsport
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2008
Erfolgreichster Dressurreiter der Welt
Mit sechs Gold- und zwei Bronzemedaillen bei sechs Olympischen Spielen zwischen 1960 und 1988 war Dr. Reiner Klimke einstmals der erfolgreichste deutsche Olympia-Teilnehmer (inzwischen die Kanutin Birgit Fischer) und der siegreichste Dressurreiter der Welt. Höhepunkt seiner Laufbahn waren die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles mit Gold im Einzel sowie mit der Mannschaft, jeweils auf seinem erfolgreichsten Pferd Ahlerich. Zu den olympischen Erfolgen kamen sechs Weltmeister- und elf Europameistertitel. Seine Karriere begann bei der Military-EM 1957 in Kopenhagen mit Mannschafts-Silber und Platz vier in der Einzelwertung. 1959 startete Klimke als erster deutscher Dressurreiter nach dem 2. Weltkrieg wieder im Ausland und gewann in Thun/Schweiz eine Dressurprüfung. Danach folgte eine einmalige Laufbahn. 1988 wurde der Jurist in Seoul noch einmal Mannschafts-Olympiasieger und trug bei der Eröffnungsfeier die Fahne der bundesdeutschen Mannschaft. Ebenso waren Klimke Ehrenämter in Sport und Politik wichtig.
Er gründete den Reitverein St. Georg, war Stadtrat in Münster und saß von 1991 bis 1995 im nordrhein-westfälischen Landtag, wo er mithalf, den Sport als Staatsziel in der Landesverfassung zu verankern. Klimke war Mitglied im Präsidium der Deutschen Reiterlichen Vereinigung und der Deutschen Olympischen Gesellschaft.
Er initiierte den Nürnberger Burgpokal, setzte sich für die systematische Jugend-Förderung und nach der Wende 1990 für junge Dressurreiter der neuen Bundesländer ein.
Größte Erfolge:
› Sechsmal Olympia-Gold (1964, 1968, 1976 und 1988 mit der Mannschaft, 1984 im Einzel und mit der Mannschaft)
› Sechsfacher Weltmeister
› Elffacher Europameister
Auszeichnungen:
› Olympischer Orden des IOC (1991)
› Fahnenträger der deutschen Olympiamannschaft 1988
› Ehrenbürger von Münster (1986)
› Träger sämtlicher Auszeichnungen der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN)
› Silbernes Lorbeerblatt
› Goldenes Band der Sportpresse (1985)
Erfolgreichster Dressurreiter der Welt
Die Beurteilung einer Dressurvorführung erfordert ein gewisses Maß an Fachwissen und Begeisterungsfähigkeit, denn sie ist ein Kunstwerk. Die Dressur spricht heute den Menschen mehr an denn je. Die Sehnsucht nach dem Pferd, welches sich unter einem elegant sitzenden Reiter anmutig, schön und mit großer Leichtigkeit bewegt, ist gerade in den Städten besonders groß. Und darum wird die Dressurreiterei, wenn sie richtig erklärt und gezeigt wird, so lange Freunde haben, wie es Pferde und gute Reiter gibt.“ Als Reiner Klimke diese Beurteilung eines besonderen Sportzweigs schrieb, war er knapp vierzig Jahre alt und galt längst als eine Koryphäe seines Fachs – sowohl in Theorie wie auch in der Praxis.
Es geschieht immer wieder, dass die Menschen verschiedener Landschaften mit angeblich typischen Attributen belegt werden: Hanseaten sollen demnach stur sein, Schwaben neigen ganz besonders zur Sparsamkeit, Pfälzer verbringen die Zeit mit ihrem Wein, Rheinländer feiern ununterbrochen ihren Karneval – was aber sagt man von den Leuten im platten Münsterland?
Wahrscheinlich ist es so, dass alles ein bisschen stimmt, oder auch nicht. Wenn es richtig sein sollte, dass die Bewohner des Münsterlandes eher ein wenig schwerfällig wirken, so kann das auch daran liegen, dass sie erst denken und erst danach sprechen. Es kann auch daran liegen, dass sie viel von Ordnung und Disziplin halten – dass sie ihre Pflichten ernst nehmen und wohl auch eine gewisse Dickköpfigkeit nicht verleugnen – sie brauchen sicherlich ein wenig länger, um Freunde zu gewinnen, und diese dann allerdings ein Leben lang nicht zu vergessen – wenn das alles stimmt, war Reiner Klimke wohl ein typisches Kind dieser Landschaft.
Der Notar und Rechtsanwalt Dr. Reiner Klimke, in Münster geboren, in Münster groß geworden, in Münster auch gestorben, hatte rund ein Vierteljahrhundert gebraucht – man muss wohl sagen: gearbeitet – bevor man ihm bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles die Goldmedaille gab. Der Wallach Ahlerich erreichte das gesegnete Alter von 21 Jahren – und es ist hier überflüssig, darauf hinzuweisen, dass er aus der westfälischen Zucht stammte.
Klimke hat den Tag seines Sieges von Los Angeles als den schönsten Moment seines Lebens bezeichnet. Als er vier Jahre später bei den Olympischen Spielen 1988 im koreanischen Seoul die Fahne der Deutschen in das Stadion tragen durfte, war es vielleicht ähnlich. Da galt er aber bereits als der erfolgreichste Dressurreiter aller Zeiten. Schließlich waren es sechs Weltmeisterschaften, elf Europameisterschaften und acht olympische Medaillen in allen möglichen Farben. Er war der vierte deutsche Dressurreiter, der Olympiasieger im Einzel wurde – an einem Tag, an dem Ross und Reiter zu einem Einklang fanden, wie man ihn nie zuvor sah. Klimkes Vorgänger waren Carl Friedrich Freiherr von Langen, Heinz Pollay und Liselott Linsenhoff – ein Gutsbesitzer, ein Kavallerist, eine Großunternehmerin. Wenn man so will: Er war der erste Bürgerliche. Er konnte gar nicht anders, als sich die Stunden im Dressursattel von der Nachtruhe abzuknapsen oder sich schnell für eine Weile aus der Kanzlei in den Stall davon zu stehlen. Als er in den Düsseldorfer Landtag als Abgeordneter einzog gab es noch weniger Freizeit. Das ging über all die Jahre wohl nur, weil er sicher sein konnte, in seiner Frau Ruth einen ruhenden Pol zu wissen, die die Alltagssorgen von ihm fernhielt – auch die Erziehung der Kinder, die das Leben mit den Pferden später ebenfalls mit Erfolg in ihr Leben aufnahmen.
Der spröde Mann mit den immer wachsamen Augen hatte seine Liebe zu den Pferden schon als Junge entdeckt. Das ist in diesem Sport immer so – es gibt da keine Überflieger, die von heute auf morgen auftauchen. Dass er bereits als junger Mann im Alter von 23 Jahren Europameister mit der Military-Equipe wurde, machte Hoffnungen, die aber ein Jahr später, 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom wieder gedämpft wurden. Vielleicht waren es gerade diese unfreiwilligen harten Landungen zwischendurch, die den Westfalen zurück auf den Teppich brachten. Reiner Klimke ist immer der Realist geblieben.
Das muss man wohl auch, wenn man sich mit Pferden abgibt, die genauso anfällig sind wie Menschen, die krank werden können oder die Form verlieren. Da Klimke kaum die finanziellen Möglichkeiten besaß, sich die schönsten Rösser zu kaufen, kam eine weitere Herausforderung hinzu: Er musste jedes seiner Pferde ausbilden, bis sie dem erforderlichen Standard entsprachen und bei den großen Prüfungen vorgezeigt werden konnten. Er führte Dux, Mehmed und eben auch Ahlerich zu den höchsten Zielen. Es waren nicht immer Pferde, bei denen die Ästheten allein vom Anblick vor Begeisterung in die Hände klatschten.
Ein knappes Jahr vor seinem so überlegenen Olympiasieg im kalifornischen Santa Anita belegte er mit Ahlerich in Berlin nur einen sechsten Platz und die Experten wandten sich bei der Benennung der Olympiafavoriten anderen Pferden und Reitern zu. Klimke schwor einigen Freunden, dass er mit Ahlerich zu den Olympischen Spielen reisen würde – und zu gewinnen! Bedarf es eines weiteren Beweises für Sturheit?
Dieser Dr. Reiner Klimke ist mit Sicherheit nie einer von den Bequemen gewesen oder einer von den Stillen, die sich lieber in der Hoffnung ducken, ihr Wohlverhalten beim nächsten Mal mit ein paar Punkten honoriert zu bekommen. Wie in allen Sportarten, in denen objektiv nichts messbar ist, muss man das Wohlwollen oder die Antipathie von Punktrichtern auch im Dressurreiten als Realität ansehen. Es ist anzunehmen, dass Klimke sich darum – meistens zumindest – einen feuchten Kehricht gekümmert hat.
Es hat ihm gerade in dieser oft traditionsschweren Sportart nicht nur Freunde eingebracht, als er neue Gedanken äußerte. Formen des „Figurenreitens“ zum Beispiel, die das breite Publikum genauso anlocken wie vielleicht der Eiskunstlauf. Ein bisschen weg vom steifen Zeremoniell und ein bisschen hin zur gefälligeren Schau. Ein Revoluzzer? Beileibe nicht! Dr. Reiner Klimke, der auch in seinem politischen Engagement eher zu den Konservativen zu zählen war, hatte weiter nichts im Sinn, als diesem Sport zu mehr Popularität zu verhelfen – und zwar mit Vernunft und selbstverständlich mit Ordnung und Disziplin. So wie man es den Menschen im Münsterland nachsagt.
Klimke schrieb so, dass diese kompliziert aussehende Materie auch dem Laien verständlich wurde: „Dressur ist nichts anderes als die gymnastische Ausbildung des Pferdes und seine sorgfältige Erziehung. Wir wollen das Pferd nicht durch Anerziehung künstlicher Bewegungen zum Schauobjekt machen, sondern es durch systematische Ausbildung seiner natürlichen Anlagen schöner und gesünder werden lassen. Neben den drei Grundgangarten Schritt, Trab und Galopp kultivieren und fördern wir nur die Bewegungen und Übungen, die das Pferd in der Freiheit – wenn auch nur in Momenten – zeigt. So zum Beispiel den fliegenden Galoppwechsel, wenn das Pferd im Galopp die Richtung wechselt; die Pirouette, wenn das Pferd am Ende der Weide plötzlich kehrtmacht; die Piaffe aus dem ungeduldigen Trippeln am Weidetor. Ein gut durchgebildetes Dressurpferd ist ein Athlet.“
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Reiner Klimke:
Reiner Klimke: Grundausbildung des jungen Reitpferdes. Von der Fohlenerziehung bis zum ersten Turnierstart. Stuttgart 1990
Ingrid Klimke, Reiner Klimke: Profitips Cavaletti. Dressur und Springen. Stuttgart 1997
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Antje Harvey
* 10. Mai 1967 in Magdeburg
Biathlon
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2012
Mit Moral zu Medaillen
Die Geschichte von Vater und Tochter ist miteinander verbunden: Als Ski-Langlauftrainer beim SC Motor Zella-Mehlis sollte Henrich Misersky, allgemein Henner genannt, seinen Athletinnen, darunter Tochter Antje, im Jahr 1985 Dopingmittel verabreichen. Er weigerte sich und informierte seine Sportlerinnen über die Dopingpläne und die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren. Daraufhin wurde er fristlos entlassen, die Tochter beendete ihre Karriere im DDR-Ski-Langlauf – und feierte nach der Wende 1992 im Biathlon ein von olympischem Gold gekröntes Comeback. In Thüringen hatte Henner Misersky die wohl beste Nachwuchsgruppe von Skilangläuferinnen der damaligen DDR aufgebaut, darunter seine Tochter Antje, die 1985 WM-Bronze mit der DDR-Staffel gewann. Weil er sich 1985 weigerte, sich auf das neue Skilanglauf-Verbandsprogramm einzuschwören, welches Minderjährigen-Doping beinhaltete, wurde der früher sehr erfolgreiche Langstreckenläufer fristlos entlassen. Wegen der folgenden politischen Nötigungen – u.a. sollte sie den Eltern nicht mehr vom Training erzählen – und des angekündigten Einsatzes von Dopingmitteln trat Antje Misersky aus der Kinder- und Jugendsportschule aus. Erst 1989 setzte sie ihr Training unter veränderten politischen Vorzeichen fort und konzentrierte sich auf den nun auch für Frauen olympisch gewordenen Biathlon. Bei den Winterspielen 1992 gewann sie Gold über 15 km und sagte danach: „Der Sieg gehört meinem Vater“. Darüber hinaus holte sie in Albertville Silber über 7,5 km und mit der Staffel. 1994 in Lillehammer folgte Olympia-Silber mit der Staffel, 1995 in Antholz WM-Gold mit der Staffel. Antje Harvey bewies, dass man Doping widerstehen und trotzdem die Weltspitze erreichen kann. Die konsequente Haltung ihres Vaters, der bewusst berufliche und persönliche Nachteile in Kauf genommen hatte, war ihr dafür Vorbild und Motivation.
Größte Erfolge:
› Olympia-Gold 1992 über 15 km
› Olympia-Silber 1992 über 7,5 km und in der Staffel
› Olympia-Silber 1994 in der Staffel
Auszeichnungen:
› Heidi-Krieger-Medaille für Einsatz gegen Doping (2005)
Besondere Biografie:
Antje Harvey wurde stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie im
Kampf gegen Doping“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
Mit Moral zu Medaillen
Antje Harvey hat sich nicht erst nach ihrer sportlichen Karriere im Kampf gegen Dopingbetrug engagiert. Die Biathlon-Olympiasiegerin von 1992 in Albertville, damals unter ihrem Mädchennamen Misersky, scheute bereits während ihrer aktiven Zeit in der DDR-Diktatur nicht die Konfrontation mit denen, die das staatlich verordnete Doping-System mitverantwortet haben. Sie bewies in bewundernswerter Weise, dass Spitzensport auch ohne Doping möglich ist. Ihre hartnäckige Weigerung, als ehemalige DDR-Skilangläuferin Dopingsubstanzen einzunehmen, führte zu Repressalien und 1985 zum Ausschluss aus dem Leistungssport. Dennoch gab es ein Happy End.
Antje Harvey hat sich sehr darüber gefreut, als sie von der Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports gemeinsam mit ihrem Vater erfuhr: „Wir fühlen uns als Stellvertreter für die, die all die Jahre in Ost und West für einen sauberen und fairen Sport eingetreten sind.“ Wie gewohnt, gibt sie sich bescheiden: „Eine solche Ehrung berührt mich schon sehr. Viele andere vor mir hätten diese Auszeichnung auch verdient.“ Die Würdigung ehrt ihrer Meinung nach die ganze Familie Misersky, die aufrecht der SED-Diktatur immer wieder die Stirn bot. Vater Henner, in den sechziger Jahren ein guter Mittelstreckler und Hindernisläufer, wurde als Skilanglauftrainer 1985 aus dem Sport-Club Motor Zella-Mehlis entlassen, weil er und seine Tochter Antje das kurz zuvor verkündete neue DDR-Skiverbandsprogramm, das auch den betrügerischen und illegalen Einsatz von gefährlichen Hormonpräparaten zum Inhalt hatte, nicht mittragen wollten. Die Fälle von geschädigten Neugeborenen häuften sich. Aufkommende Angst und die steigende Ungewissheit bezüglich der von DDR-Wissenschaftlern entwickelten Mittel und Methoden hatten zudem die Freude am sozialistischen Leistungssport überlagert.
Heute herrscht Klarheit über das flächendeckende Staats-Doping in der DDR und die verheerenden Gesundheitsschäden. Selbst die in der DDR nicht zugelassene und vom VEB Jenapharm hergestellte Steroidsubstanz STS 646 wurde im Skilanglauf eingesetzt, Hormontabletten wurden in Vitamingetränken aufgelöst und Testosteronpräparate gespritzt, ohne dass die Athleten davon Kenntnis hatten, wie es der damalige DDR-Ski-Verbandsarzt Hans-Joachim Kämpfe aus Kreischa (IM „Schmied“) Mitte der achtziger Jahre mit buchhalterischer Genauigkeit als Spitzel dem DDR-Geheimdienst – der Stasi – berichtete. Auch Heike, die drei Jahre ältere Schwester von Antje, war bis zu Beginn der achtziger Jahre als gute Skilangläuferin im Sport-Club in Zella-Mehlis aktiv. Die Stasi wollte, dass sie ihre Kameraden und die Familie bespitzelt. Heike Misersky erzählte damals ihren Eltern davon und distanzierte sich von den Stasi-Werbern.
Die ganze Familie geriet nach der Dopingverweigerung in Sippenhaft. Antje Misersky, mit 17 Jahren bereits Bronzemedaillen-Gewinnerin bei den Nordischen Ski-Weltmeisterschaften mit der DDR-Langlaufstaffel 1985 in Seefeld, kam auf eine schwarze Liste. Sie durfte nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen, selbst als DDR-Skilanglauf-Meisterin nicht den Titel verteidigen. Nur bei Volksläufen war ein Start noch möglich. Die DDR-Presse samt deren gleich geschaltete Sportjournalisten schwieg beharrlich darüber, lediglich in den Ergebnislisten durfte der Name Misersky noch auftauchen.
Der Bruch mit dem Leistungssport setzte damals ein Achtungszeichen. Immerhin hatte Antje bereits als Jugendliche mit 17 Jahren auch international schon beachtliche Erfolge erzielt und das Reisen in westliche Länder zu Zeiten des Kalten Krieges war ein nicht zu unterschätzender Motivationsgrund für die tägliche Schinderei im Training. Doch der Verzicht auch auf diese Reise-Privilegien, von denen die allermeisten DDR-Bürger nur träumen konnten, spricht für den selbstkritischen und ehrlichen Charakter von Antje Misersky, die sich bereits als Jugendliche nicht uneingeschränkt dem DDR-Sportsystem preisgeben wollte. An eine Rückkehr in den Spitzensport dachte sie damals nach ihrem Ausstieg „nicht mal im Traum“. Die Thüringerin nahm ein Sport- und Pädagogik-Studium in Potsdam auf, wo sie „eine gute sportliche Allround-Ausbildung erhielt und auch einen Einblick in die Trainingslehre bekam“.
Die Aufgabe der Leistungssportkarriere im Sommer 1985 war für Antje Harvey im Rückblick „ein kleiner Preis für all das Gute, was mein Auftreten gegen Doping für mich gebracht hat“, sagte sie im Frühjahr 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sich nicht dem Willen der gewissenlosen Sport-Funktionäre und Mediziner in der SED-Diktatur unterworfen zu haben und „heute in den Spiegel schauen zu können“, ist für Vater und Tochter Misersky „von großem Wert“. „Ich konnte mir treu bleiben, brauche nicht mit Reue auf diesen Lebensabschnitt zurückzuschauen.“
Vier Jahre nach diesem abrupten Karriereende begann für Antje Misersky im Juli 1989 ihr sportliches Comeback als Biathletin im DDR-Armeesportklub Oberhof. Nachdem dort eine Damen-Biathlon-Trainingsgruppe gegründet worden war, um bei den Olympischen Winterspielen 1992 für die DDR Medaillen gewinnen zu können, wurde sie von einem Trainer mangels Alternativen angesprochen. Nach anfänglicher Skepsis und langem Zögern folgte sie dem Rat ihres Vaters, es doch wenigstens einmal zu versuchen. Ihre innige Zuneigung zum Sport gab letztendlich den Ausschlag, auch wenn diese Rückkehr in den Leistungssport von einigen Sportfunktionären attackiert wurde. „Das Schießen klappte ganz gut und so habe ich gedacht, ich probiere es einfach, natürlich vorausgesetzt, dass ohne Dopingmittel wie Anabolika gearbeitet wird.“ Dass sie wegen des Comebacks im Armeesportklub in Oberhof in die Nationale Volksarmee eintrat, wenn auch nur für vier Monate, „war damals ein riesiger Gewissenskonflikt“. Verknüpft mit dem Wiedereinstieg war der bei Antje Misersky im Hinterkopf schlummernde Fluchtgedanke, bei einem Start im westlichen Ausland das Land verlassen zu können.
Doch nur kurze Zeit darauf, am 9. November 1989, fiel die Mauer. Und gut zwei Jahre und drei Monate später krönte Antje Misersky ihre Karriere als Skijägerin im französischen Albertville/Les Saisies mit Olympia-Gold über 15 Kilometer und mit zwei Silbermedaillen über 7,5 Kilometer und mit der Staffel. Beim ersten Auftritt einer wiedervereinigten, gesamtdeutschen Olympiamannschaft nach dem Untergang der DDR und noch dazu bei der olympischen Premiere der Biathlonwettbewerbe der Frauen, eine Goldmedaille zu gewinnen, bleibt auch für Antje Harvey heute noch unvergesslich. Überglücklich fiel sie damals im Zielraum in Les Saisies ihrem Vater Henner in die Arme. Was für ein bewegender Moment! Sie hatte zudem bewiesen, dass man Doping widerstehen und trotzdem die Weltspitze erreichen kann. 1994 bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer (Norwegen) gewann Harvey mit der Damen-Staffel noch einmal Silber.
Das mit ihrem Olympiasieg verbundene Medieninteresse nutzte Antje mutig, um auf Missstände im Sport aufmerksam zu machen. Im Februar 1992 ergriff sie zusammen mit ihrem Vater Henner bei einem bemerkenswerten ARD-Fernsehinterview die Gelegenheit, auf die doping- und stasibelasteten DDR-Funktionäre und Trainer hinzuweisen, die vom Deutschen Skiverband (DSV) nach dem Mauerfall trotz mehrfacher Beschwerden und Warnungen übernommen wurden. Darunter war auch der dreifache DDR-Olympiasieger in der Nordischen Kombination, Ulrich Wehling, der im DDR-Skiverband als Funktionär ein knallhartes Regime führte. Der damalige DSV-Direktor, der Bayer Helmut Weinbuch, der im ARD-Fernsehstudio saß, wurde von den Miserskys mit dem Vorwurf der Ignoranz konfrontiert – und flüchtete sich in Allgemeinplätze. Danach flatterten den Miserskys im thüringischen Stützerbach neben anerkennenden und rührenden Schreiben auch böse Briefe, vorwiegend aus Ostdeutschland, und sogar anonyme Morddrohungen ins Haus.
Antje Harvey beendete 1995 nach WM-Staffelgold in Antholz ihre Sportlaufbahn. Sie, die Starallüren nie etwas abgewinnen konnte und damals als Athletin gerne mal Oscar Wilde las oder Dvorák hörte, fand ihr privates Glück in Übersee. Ein solch selbstbestimmtes Leben schien noch einige Jahre zuvor in der DDR nahezu undenkbar. Seit 1995 lebt sie in den USA, seit 2000 ist sie US-Staatsbürgerin. Mit ihrem Ehemann Ian, einem früheren US-Biathleten, den sie 1992 beim Weltcup in Ruhpolding kennenlernte und im Frühjahr 1993 heiratete, gründete sie eine Familie. Das Ehepaar hat zwei Kinder und wohnt in dem kleinen Städtchen Heber City im Bundesstaat Utah in einer Doppelhaushälfte mit direktem Blick auf die Rocky Mountains.
Für ihre couragierte Haltung erhielt Antje Harvey im Jahr 2005 vom Doping-Opfer-Hilfe-Verein e.V. Weinheim die „Heidi-Krieger-Medaille“. Die Auszeichnung ist nach der Kugelstoß-Europameisterin von 1986 benannt, die als Jugendliche mit großen Mengen von Sexualhormonen in der DDR gedopt wurde und sich später einer Geschlechtsanpassung unterzog und heute Andreas Krieger heißt. „Mein Weg wäre nicht ohne die ethischen Grundsätze möglich gewesen, die mir von meiner Familie vermittelt wurden“, sagte Antje Harvey zur Verleihung.
Antje Harvey findet es „gut und wichtig, dass der ehrenamtlich agierende Doping-Opfer-Hilfe-Verein den Menschen hilft, die durch das DDR-Dopingsystem um ihre Gesundheit gebracht wurden und die es heute sehr schwer haben.“ Für sie ist die Sportlerzeit heute weit weg. Diese lehrreiche Phase mit dem Glanzpunkt Olympiasieg 1992 war für sie „ein schöner, aber eben nur ein Abschnitt im Leben“. Dass sie durch den Sport den Mann fürs Leben fand, empfindet sie als großes Glück. Es lohne sich, für etwas zu kämpfen, etwas zu versuchen, dies habe sie damals beim Sport gelernt. „Allerdings nicht um jeden Preis, schon gar nicht mit Betrug und Manipulation.“
Den besonders „im Spitzensport vorherrschenden Egoismus und die gewisse Ellebogenmentalität“ kann sie heute als Mutter zweier gesunder Kinder, Hausfrau und gläubige Christin, „gar nicht mehr so recht nachvollziehen“. Zudem unterstützt sie ihren Mann, der für eine große Skiwachsfirma arbeitet, bei der Büroarbeit. „Das ist jetzt ein ganz anderes Leben, voller Erfüllung und Zufriedenheit.“
Thomas Purschke, Mai 2012
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Henner Misersky
* 25. Dezember 1940 in Jena
Skilanglauf
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2012
Mit Moral zu Medaillen
Die Geschichte von Vater und Tochter ist miteinander verbunden: Als Ski-Langlauftrainer beim SC Motor Zella-Mehlis hatte Henner Misersky die wohl beste Nachwuchsgruppe von Skilangläuferinnen der damaligen DDR aufgebaut, darunter seine Tochter Antje, die 1985 WM-Bronze mit der DDR-Staffel gewann. 1985 sollte er seinen Athletinnen Dopingmittel verabreichen. Er weigerte sich und informierte seine Sportlerinnen über die Dopingpläne und die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren. Daraufhin wurde der früher sehr erfolgreiche Langstreckenläufer fristlos entlassen, die Tochter beendete ihre Karriere im DDR-Ski-Langlauf – und feierte nach der Wende 1992 im Biathlon ein von olympischem Gold gekröntes Comeback.
Wegen der folgenden politischen Nötigungen – unter anderem sollte Tochter Antje den Eltern nicht mehr vom Training erzählen – und des angekündigten Einsatzes von Dopingmitteln trat sie aus der Kinder- und Jugendsportschule aus. Erst 1989 setzte sie ihr Training unter veränderten politischen Vorzeichen fort und konzentrierte sich auf den nun auch für Frauen olympisch gewordenen Biathlonsport. Bei den Winterspielen 1992 gewann sie Gold über 15 km und sagte danach: „Der Sieg gehört meinem Vater“. Darüber hinaus holte sie in Albertville Silber über 7,5 km und mit der Staffel. 1994 in Lillehammer folgte Olympia-Silber mit der Staffel, 1995 in Antholz WM-Gold mit der Staffel. Antje Harvey bewies, dass man Doping widerstehen und trotzdem die Weltspitze erreichen kann. Die konsequente Haltung ihres Vaters, der bewusst berufliche und persönliche Nachteile in Kauf genommen hatte, war ihr dafür Vorbild und Motivation. Nach der Wende war Henner Misersky Vorreiter für die Aufarbeitung des DDR-Dopings, so wie Brigitte Berendonk in Ost und West.
Größte Erfolge:
› Ehrennadel des Thüringer Skiverbandes (2010)
› Heidi-Krieger-Medaille für Einsatz gegen Doping (2009)
Besondere Biografie:
Henner Misersky wurde stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie im Kampf gegen Doping“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
Mit Moral zu Medaillen
Es war nicht so, dass Henner Misersky im deutschen Sport diese Rolle freiwillig spielte. Oft schien sie ihn nämlich zu einem „ewigen Außenseiter“ abzustempeln. Er und alle, die ihn näher kannten, wussten es besser. Doch das waren nur wenige. Dieser Skilanglauf-Trainer aus Thüringen vom Jahrgang 1940 bekannte Farbe: Er sagte, was er dachte. Ihn befiel nie die Angst vor Königsthronen. Oder vor der Obrigkeit. Das geschah weder in der Politik noch im Sport.
Zuallererst war für Henner Misersky die deutsche Einheit ein hoher persönlicher Feiertag. Er hatte ihn wie nichts anderes ersehnt. Der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) weinte er keine Träne nach. Er wusste, dass er wachsam sein musste. Im Sport lagen unter der Erdoberfläche auch noch nach der Wende im November 1989 viele Minen, besonders Doping-Minen, die jederzeit hochgehen konnten.
Es gibt einen persönlichen Augenblick in Henner Miserskys Leben, in dem sich wie unter einem Brennglas sein ganzer Charakter zeigte, damals bei der ARD-Fernseh-Übertragung der Olympischen Winterspiele 1992 aus dem französischen Albertville. Seine Tochter Antje war am Vormittag Olympiasiegerin im 15-Kilometer-Langlauf des Biathlons geworden. Ihren Vater, der auch ihr Trainer war, hatte ein bei der Stiftung Deutsche Sporthilfe angestellter Freund mitgenommen, andernfalls wäre er daheim in dem Dorf Stützerbach nahe Oberhof geblieben. Damit war der Boden bereitet worden, was später als ein „legendäres“ Interview in die deutsche Fernsehgeschichte einging.
Plötzlich stand er zum ersten Mal im Scheinwerferlicht, und der Moderator stellte die unvermeidliche Frage nach den Gefühlen des glücklichen Vaters. Die Antwort lag für ihn auf der Hand. Aber der gerade im hellen Licht Ausgeleuchtete trennte sofort kühl das Wichtige vom Unwichtigen. Das Besondere, antwortete er, und zog einen großen Bogen, sei nicht das unverhoffte Geschenk seiner Antje auf der Loipe gewesen, sondern „die Wiedervereinigung“ seines Vaterlandes. Noch Jahre später würde er erzählen, dass ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufe, wenn er die Grenze zwischen Thüringen und Bayern überquere. Er fuhr oft und gewann im deutschen Süden zahlreiche deutsche Seniorenmeisterschaften im Skilanglauf. Selbst bei den Welttitelkämpfen holte er einige Goldplaketten. Schon im Jahr 1965 war er ostdeutscher Vizemeister im 3000-Meter-Hindernislauf geworden.
Henner Misersky hatte keine Übung darin, sich zu verbiegen. Jetzt nutzte er geistesgegenwärtig die Gelegenheit, die führenden Funktionäre des Deutschen Ski-Verbandes bloß zu stellen. Er war nicht nur mutig, sondern tollkühn, wenn er monierte, dass sie nach der Aufnahme der ostdeutschen Biathleten in den neuen Verband auch deren alten Trainer übernommen hätten. Es wies darauf hin, dass es ausschließlich Leute mit einer Dopingvergangenheit waren. Sodann nannte er die Namen der maßgeblichen Offiziellen aus Bayern und die der unehrenhaften Trainerkollegen, die sich eine neue Festanstellung ergattert hatten.
Das Millionenpublikum vor den Bildschirmen staunte. Der Thüringer war sogar dankbar, die neue Möglichkeit wahrnehmen zu können, seine Meinung frei zu äußern. Das war gelernte Demokratie.
Ihm war der Hinweis wichtig, dass im deutschen Spitzensport die Wiedervereinigung nur höchst unzulänglich stattgefunden hatte. Den Einwand der maßgeblichen West-Funktionäre, die ostdeutschen Sportler sollten unter den neuen Bedingungen wenigstens ihre vertrauten Trainer behalten, war für ihn an den Haaren herbeigezogen. In Wahrheit wolle auch der Westen klammheimlich die Vorteile des Dopings übernehmen. Mit den unzureichenden Doping-Kontrollen würde man schon fertig. Die Funktionäre und ihre Helfershelfer waren mit dem laut ausgesprochenen Argument auch schnell zur Hand: „Wir kontrollieren, und das Ausland lacht sich über uns tot.“
Zu jener Zeit gehörte Henner Misersky einer kleinen Gruppe an, die in Deutschland für flächendeckende Dopingkontrollen eintrat. Er glaubte an die Gerechtigkeit als eine Leitschnur. Ohne sie würde alles zerbrechen. Und denkt bitte daran, dass eines Tages die Eltern ihre Kinder nicht mehr zu Spitzensport schicken! Ein System, das sich auf der Lüge aufbaut, hat keine Zukunftschancen. Bei Prozessen gegen den einen oder anderen Hauptdoper trat Misersky als Zeuge an. Er fuhr bis zum Landgericht in Mainz. Daraufhin verloren die schlimmsten Trainer-Täter ihre Anstellungen im Deutschen Ski-Verband, jedoch längst nicht alle.
Henner Misersky verbitterte die Gedankenlosigkeit im Westen. Dabei war er wenigstens aufgehoben in seiner Familie mit einer starken Ehefrau an seiner Seite, übrigens einer ehemaligen 800-Meter-Meisterin, und in einem sich allmählich formierenden Kreis neuer Freunde auch aus West und Ost, mit denen sie den Kampf gegen Doping teilten. Mehr als zehn waren es ohnehin nicht. Sie sagten, dass der Kampf gegen Doping keine Himmelsrichtung kenne. Die Ostdeutschen argumentierten ja gern hinter der vorgehaltenen Hand, nur sie ständen am Pranger.
Nach der Wende bestätigte sein früherer Professor an der Jenaer Universität, dass ihm, Henner Misersky, „trotz bester Studienleistungen“ eine wissenschaftliche Laufbahn und Promotion verwehrt blieben. Er war „politisch unzuverlässig“ gewesen mitsamt der ganzen Familie. So lautete der offizielle Sprachgebrauch der diktatorischen Sozialistischen Einheitspartei (SED).
Ein notwendiger Blick zurück, der noch einmal das lange Ab und das heftige und kurze Auf beschreibt: Die Funktionäre des ostdeutschen Ski-Verbandes waren erst 1983 auf den Skilanglauftrainer Misersky aufmerksam geworden, weil er an einer Technischen Hochschule eine sehr leistungsstarke Sektion im Ausdauersport aufgebaut hatte und seine beiden Töchter Heike und Antje im Schüler- und Jugendbereich landesweit für Furore sorgten. Die staatlich geförderte Nachwuchselite hatte das Nachsehen. Seine Ideen vom individuellen und kreativen Training wollte man nutzen. Kurzerhand wechselte er den Arbeitsplatz und wurde auf SED-Parteibeschluss zum Leistungssportklub Zella-Mehlis „delegiert“ – deklariert „als sozialistische Hilfeleistung zur Lösung leistungssportlicher Aufgaben“. Erfolgsbedingt stieg er rasch in die Kategorie der Spitzentrainer auf.
Zwei Jahre danach erhielt Henner Misersky zu einem Trainertreffen in Oberhof eine Einladung, von der er später sagte, sie hätte sein Leben verändert. Er zitiert einen Spitzentrainer, der gerade eine neue Zeitrechnung des DDR-Skiverbandes ankündigte und mitteilte: „Ab sofort gehören unterstützende Mittel auch beim Nachwuchs zum Verbandsprogramm.“ „Wie im Frauenrudern und im Kanu.“ Jene unterstützenden Mittel trugen das Kürzel U.M. Das wusste nur ein kleiner, zur unbedingten Geheimhaltung verpflichteter Kreis. U.M. war schlicht die Umschreibung für Doping. In diesem Fall sollten die Mädchen und jungen Frauen männliche Sexualhormone schlucken. Das berühmt gewordene Oral-Turinabol, das Standard-Dopingmittel der DDR.
Da die Schwiegermutter des Thüringer Trainers Ärztin war, ließ er sich von ihr aufklären und erfuhr sofort von der Gefährlichkeit dieses verschreibungspflichtigen Arzneimittels. Es an gesunde weibliche Personen zu verabreichen, dazu regelmäßig und über Jahre hinweg, ohne jede ärztliche Indikation, konnte nur verbrecherisch sein. Die Folgen wären unüberschaubar. Es begänne mit typischer Steriod-Akne, setze sich fort über Herzprobleme, Leberschäden, Vermännlichung bis zum Krebs.
Darüber klärte er Tochter Antje und seine ganze Mädchen-Gruppe auf. Alle sagten entschieden Nein, und der damalige Vizepräsident Leistungssport Thomas Köhler ordnete wenig später an: „Misersky ist zu entlassen.“
Plötzlich stellte sich für Henner Misersky eine neue Herausforderung ein. Gleich nach der Wende, aber noch vor dem Vollzug der deutschen Einheit, waren in der Noch-DDR dank einer friedlichen Revolution der Bevölkerung die Demokratie und die Freiheit eingezogen. Es ergab sich, dass die nächsten Olympischen Winterspiele nur noch ein Jahr entfernt waren, und Biathlon war gerade erst eine neue olympische Disziplin geworden. Weil die DDR bei Olympia den schon leistungsstarken Biathletinnen der BRD die Medaillen nicht überlassen wollte, musste sie für Albertville 1992 auch eine noch nicht vorhandene Frauen-Mannschaft melden. So erinnerten sie sich an Antje Misersky und ihren Vater. Beide hatten noch nichts verlernt. Es ging auch mit Fairplay und Ehrlichkeit.
Robert Hartmann, Mai 2012
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Dr. Michael Groß
* 17. Juni 1964 in Frankfurt am Main
Schwimmen
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2015
Der Albatros
Als dreifacher Olympiasieger, fünffacher Weltmeister, 13-facher Europameister und mit insgesamt 38 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften ist Michael Groß einer der erfolgreichsten deutschen Schwimmer. Groß stellte in seiner von 1980 bis 1991 dauernden internationalen Karriere zwölf Weltrekorde auf und hielt zeitweise vier Bestmarken, was bis dahin nur dem US-Amerikaner Mark Spitz gelungen war.
Aufgrund seines Schwimmstils im Schmetterling und wegen seiner großen Arm-Spannweite von 2,13 Metern bei 2,01 Meter Körpergröße gab ihm 1983 ein Journalist der französischen Sportzeitung L‘Equipe den Spitznamen „Albatros“. Ebenso legendär ist, wie der TV-Reporter Jörg Wontorra Groß bei den Olympischen Spielen 1984 mit den Worten „flieg, Albatros, flieg“ anfeuerte. In Los Angeles siegte der für den Ersten Offenbacher Schwimmclub antretende Athlet jeweils in Weltrekordzeit über 200 Meter Freistil und 100 Meter Schmetterling, gewann zudem zwei Silbermedaillen und wurde ein internationaler Sportstar. Vier Jahre später in Seoul gewann Groß Gold über 200 Meter Schmetterling sowie Bronze mit der 4x200 Meter Freistilstaffel.
Zu seinen olympischen Erfolgen gesellen sich fünf Gold-, fünf Silber- und drei Bronzemedaillen bei Weltmeisterschaften sowie 13 Titel bei Europameisterschaften. Im Jahr 1980 verhinderte der Olympiaboykott des Westens einen Start des damals 16-Jährigen in Moskau. Die Siegeszeit des Schweden Pär Arvisson über 100 Meter Schmetterling unterbot Groß fast zum gleichen Termin im kanadischen Toronto. Michael Groß war viermal Sportler des Jahres. Parallel zur Sportkarriere studierte er Germanistik, Politik- und Medienwissenschaften und promovierte 1994.
Größte Erfolge:
› Dreifacher Olympiasieger (1984 über 200 Meter Freistil und 100 Meter Schmetterling sowie 1988 über 200 Meter Schmetterling)
› 6 Olympiamedaillen insgesamt
› Fünffacher Weltmeister 1982, 1986 und 1991
› Fünfmal WM-Silber und dreimal WM-Bronze 1982, 1986 und 1991
› 13-facher Europameister zwischen 1981 und 1987
› Zwölf Weltrekorde und 24 Europarekorde
Auszeichnungen:
› Aufnahme in die Hall of Fame des internationalen Schwimmsports (1995)
› Viermal Sportler des Jahres (1982, 1983, 1984, 1988)
› Weltschwimmer des Jahres (1985)
› Europas Sportler des Jahres (1983)
› Silbernes Lorbeerblatt
› Europäischer Schwimmer des Jahres (1982, 1983, 1984, 1985, 1986)
› 10-mal Deutscher Schwimmer des Jahres (1980-1988, 1990)
› Juniorsportler des Jahres (1981)
Der Albatros
„Auch in unserem täglichen Leben ergeben sich viele Chancen, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen und Erfolge zu erleben. Der Wert eines Erfolges hängt auch nicht von der Größe des Pokals oder dem Gewicht der Medaille ab.“ Ein bemerkenswerter Satz eines bemerkenswerten deutschen Athleten: Michael Groß
„Flieg, Albatros, flieg“! Die Worte, mit denen der damalige ARD-Reporter Jörg Wontorra in einem Rennen bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles den Offenbacher Schwimmer verbal nach vorne peitschen wollte, klingen vielen älteren Sportfreunden heute noch im Ohr.
Der Albatros, so hatte ein Journalist der französischen Sporttageszeitung L´Équipe 1983 den Ausnahmeschwimmer Michael Groß aufgrund seiner riesigen Armspannweite von 2,13 Meter bei 2,01 Meter Körperlänge genannt und damit eine Prädikatsbezeichnung kreiert, „flog“ in Los Angeles – und nicht nur da – von Erfolg zu Erfolg. Groß ist mit seinen insgesamt 21 Titelgewinnen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften - neben dem viermaligen Olympiasieger Roland Mathes - der erfolgreichste deutsche Schwimmer. Insgesamt gewann er 39 Medaillen bei internationalen Meisterschaften und stellte zwölf Weltrekorde auf. 31 Jahre nach seinen grandiosen Auftritten im Schwimmbecken von Los Angeles, bei denen Michael Groß Gold über 200 Meter Freistil und über 100 Meter Schmetterling (jeweils in Weltrekordzeit) sowie Silber über 200 Meter Schmetterling und mit der bundesdeutschen 4 x 200 Meter Freistilstaffel gewann, wurde der „Albatros“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
Sein Start in das Schwimmerlager wurde einmal mit den Worten beschrieben: „Vom Zufall zum Hobby mit Weltruhm.“ Der Hausarzt empfahl seiner Mutter, den Sohn zum Schwimmen zu schicken, um die Probleme mit seinem schnellen Wachstum in den Griff zu bekommen. Schnell fühlte der sich wohl in dem nassen Element und er nahm an ersten Wettkämpfen teil. Michael Groß startete in seiner gesamten Karriere danach nur für einen Verein, für den Ersten Offenbacher Schwimmclub (EOSC). Zudem hatte er das Glück, mit Hartmut Oleker einen Trainer zu finden, der es geschickt verstand, den Schlacks aus Frankfurt zu formen und zu fördern.
Dabei lief am Anfang der großen Karriere des Schwimmers Michael Groß gar nicht alles nach Plan. Bereits als 16-Jähriger hätte er 1980 bei den Olympischen Spielen in Moskau teilnehmen können. Das Nationale Olympische Komitee der Bundesrepublik boykottierte jedoch die Moskauer Spiele, wegen des Einmarschs der russischen Truppen in Afghanistan. Als der Schwede Pär Arvisson mit 54,92 Sekunden Olympiasieger wurde, schwamm Groß die 100 Meter Schmetterling fast zur gleichen Zeit in 54,69 – aber leider nicht in Moskau, sondern im kanadischen Toronto.
Den ersten Titel bei einer Europameisterschaft holte Michael Groß 1981 in Split/Kroatien über 200 Meter Schmetterling. Auf der 100-Meter-Distanz musste der Hesse Lehrgeld bezahlen. Disqualifikation, weil er nur mit einer Hand anschlug. Ein Anfängerfehler mit 17. Den endgültigen Durchbruch schaffte Michael Groß 1982 in Guayaquil in Ecuador. Er wurde zweimal Weltmeister: über 200 Meter Freistil und 200 Meter Schmetterling. Dabei besiegte er jeweils die Weltrekordhalter aus den USA und wurde in diesem Jahr erstmals von den deutschen Sportjournalisten zum „Sportler des Jahres“ gewählt, eine Ehrung, die ihm 1983, 1984 und 1988 noch einmal zuteil wurde. Dann das Jahr, in dem der respektvoll gemeinte Spitzname „Albatros“ geboren wurde. Michael Groß schwamm bei den Deutschen Meisterschaften 1983 in Hannover erstmals Weltrekord über 200 Meter Freistil, in demselben Jahr gewann er viermal Gold bei den Europameisterschaften in Rom und wurde erstmals „Weltschwimmer des Jahres“.
1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles errang der „Albatros“ jeweils in Weltrekordzeit die Goldmedaillen über 200 Meter Freistil und 100 Meter Schmetterling und erlebte dann das „Rennen der Rennen“ über 4 x 200 Meter Freistil. Dabei unterboten zwei Staffeln, der glückliche Sieger USA und der Zweite, die Bundesrepublik Deutschland, den Weltrekord, von dem man vor diesem Rennen glaubte, dass er unerreichbar sei, um fast unglaubliche fünf Sekunden! Acht Goldmedaillen wären der gerechte Lohn gewesen, aber für das deutsche Quartett mit Michael Groß wurde es „nur“ Silber. Groß ging als Letzter der Deutschen ins Wasser, hatte einen Rückstand von drei Metern auf Bruce Hayes. Das war für den damals weltbesten Schwimmer der Welt, das war für den „Albatros“ zu schaffen. Groß erreichte den Amerikaner schon nach 50 Metern, führte 140 Meter hauchdünn, wurde dann aber von Bruce Hayes um Zentimeter geschlagen. 7:15,69 Minuten – Weltrekord stand am Ende auf der Anzeigetafel. Michael Groß, Dirk Korthals, Alexander Schowtka und Thomas Fahrner hatten Unglaubliches geleistet – und dennoch verloren. Michael Groß wurde aber zu einem der größten Sieger dieser Spiele und zeigte sich auch im Umgang mit den Medien äußerst selbstbewusst. So schnell wie seine Zeiten waren, so kurz waren manche Interview-Termine. „Fünf Minuten – drei Fragen“, rief der Star dem Pulk von Journalisten zu, die vor einem Gitterzaun lange ausgeharrt hatten, um eine Stimme zu ergattern. Der Mann ging seinen Weg, war nicht immer bequem.
Der Höhepunkt der sportlichen Karriere folgte ein Jahr nach dem olympischen Spektakel von Los Angeles. Michael Groß erzielte weitere Weltrekorde über 400 Meter Freistil und 200 Meter Schmetterling. Als erster Mensch seit Mark Spitz hielt er damals gleichzeitig vier Weltrekorde. Wie nebenbei wurde er noch sechsfacher Europameister in Sofia in Bulgarien. 1986 verteidigte Michael Groß bei den Weltmeisterschaften in Madrid seine beiden Titel aus dem Jahr 1982. Er schwamm seinen letzten Weltrekord über 200 Meter Schmetterling, der noch heute die deutsche Rekordmarke ist. Die erste schwere Verletzung in der Laufbahn an der Schulter führte fast zur Absage bei den Europameisterschaften. Es reichte aber doch noch zur Teilnahme. Zum vierten Mal hintereinander gewann Groß über 200 Meter Schmetterling. Mit dem Offenbacher errang die Bundesrepublik Deutschland den Titel über 4 x 200 Meter Freistil – vor der DDR.
Bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 gelang Michael Groß der dritte Olympiasieg, diesmal über 200 Meter Schmetterling. Der Weltklasseschwimmer hatte aber schon längst „das Leben danach“ im Visier. Groß studierte Germanistik, politische Wissenschaften und Medienwissenschaften und promovierte in Philologie 1994 in Frankfurt über „Ästhetik und Öffentlichkeit: Die Publizistik der Weimarer Klassik“. Dazwischen gab es 1991 nach einer Pause zum Abschluss des Studiums noch einmal einen Abstecher auf die Weltbühne des Schwimmsports. Bei den Weltmeisterschaften im australischen Perth schwamm Michael Groß zum Titel Nummer fünf – endlich im Team über 4 x 200 Meter Freistil und sogar mit der gerade wiedervereinigten deutschen Mannschaft. Ein sportlicher Meilenstein und zugleich das Ende der sportlichen Karriere.
Familie, Beruf und die Promotion bestimmten fortan den Alltag. Der seit 1995 verheiratete Vater zweier Kinder ist als selbständiger Unternehmensberater tätig. Etliche Regeln und Erfahrungen aus dem Sport hat Groß in das Berufsleben mitgenommen. Im September 2011 publizierte er das Sachbuch „Siegen kann jeder“. Im August 2013 folgte das Fachbuch „Selbstcoaching“, im März 2014 das Handbuch „Change-Manager“.
Freimütig spricht Groß, auch in seinen Büchern, über sportliches Scheitern, etwa gleich in seinem ersten internationalen Rennen, mit einem falschen Anschlag. Oder das Staffelrennen bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984. Er empfand (und empfindet) Platz zwei mit dem Team als „größte Niederlage“ seines Schwimmerlebens. „Hundert olympische Minuten mit der größten Höhe und der tiefsten Tiefe“, sagt er zu diesem Tag.
Als Coach von Führungskräften und Unternehmensberater fällt es Groß inzwischen leicht, zwischen der „sehr eindimensionalen Welt des Sports“ und dem Alltag, der „vielfältigere Herausforderungen stellt“, zu unterscheiden. Seine olympischen Finalläufe – „extrem verschärfte Prüfungssituationen, die mit der Lebenswirklichkeit wenig vergleichbar sind“ – addierten sich auf gerade zehn Minuten seiner Lebenszeit. Heutzutage könne er anders als im Sport nicht mehr der Beste der Welt sein. Zugleich gehörten Misserfolge zu jedem Erfolgsweg dazu: „Die meisten Ausschreibungen, an denen ich mich als Unternehmer beteilige, verliere ich.“
Man müsse sich ständig selbst den Spiegel vorhalten, sich die richtigen Fragen stellen. Er hat viele Firmen gegründet - und wieder verlassen oder neu aufgestellt. Seit mehr als einem Jahrzehnt besitzt Groß einen Lehrauftrag an der „Frankfurt School“ für Organisationsentwicklung und Personalführung. Zu dieser Vielfalt kam es, weil er mit 19 seinen großen Lebenstraum begraben musste, Verkehrspilot zu werden. Mit 2,01 Metern war er schlicht zu groß fürs Cockpit. Er brenne noch immer für die Fliegerei, sagt er heute, mit 49. Aber er habe einst eben seine Berufswahl neu starten müssen. „Ich habe die meisten Ziele in meinem Leben nicht erreicht“, meint Groß und schiebt gleich hinterher: „Wer alle seine Ziele erreicht, stellt sich zu leichte Aufgaben.“ Das Berufsleben stellt jeden immer wieder vor schwierige Entscheidungen, gewollte oder ungewollte Veränderungen, man muss den eigenen Kurs überprüfen. „Wenn man als Kapitän nicht weiß, welches Ufer man ansteuern will, dann ist kein Wind der richtige“, zitiert er nach Seneca.
Groß warnt junge Athleten davor, sich ausschließlich das Ziel zu stecken, Weltmeister oder Olympiasieger werden zu wollen. Wer mehrere Optionen ins Auge fasse, habe auch mehr Chancen. Für ihn bedeutete das, nie nur auf Sport zu setzen (weshalb er Ion Tiriac 1984 als Manager ablehnte), sondern Schule und später das geisteswissenschaftliche Studium an der Goethe-Universität ernst zu nehmen. Eine gesuchte und gelungene Duale Kariere eben, mit Promotion. So habe er regelmäßig in eine „andere Welt abtauchen“ können, in der Stress und Erwartungsdruck des Spitzensports keine Bedeutung haben. Das Leben auf mehrere Säulen aufzubauen sei für jeden Menschen eine gute Prophylaxe gegen Fehlentwicklungen, sagt Groß. „Ein normales soziales Umfeld mit Familie und Freunden schützt“, stellt er fest, „und federt sogar existenziellen Druck ab.“
Der Sport hat Michael Groß, der 1995 in die Ruhmeshalle des internationalen Schwimmsports aufgenommen wurde, auch nach dem Ende der Schwimmkarriere begleitet. Von 2001 bis 2005 war er Mitglied im Vorstand der Stiftung Deutsche Sporthilfe und im Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland. Zudem leitete er von 2003 bis 2005 den Wirtschaftsrat der Deutschen Sporthilfe. Seit 2010 unterstützt Groß als Botschafter die Initiative „Respekt! Kein Platz für Rassismus“.
Michael Groß hat jetzt seinen Platz in der „Hall of Fame des deutschen Sports“ gefunden. Dies ist eine Anerkennung für großartige sportliche Erfolge, für die Lebensleistung eines Menschen, dessen Elixier der Schwimmsport war. Auf der großen Bühne der internationalen Ereignisse, aber auch in unzähligen Trainingsstunden, die die Basis der großen Erfolge waren. Michael Groß hatte Ziele. Um diese Ziele zu erreichen, rackerte er und schuftete er über viele Jahre beim täglichen Training. Heute gibt er im Beruf seine Erfahrungen weiter, hilft anderen Menschen, ihre Ziele zu erreichen und hat unter dem Titel „Was wirklich wichtig ist“ einmal formuliert: „Es ist nicht möglich, sich als Ziel zu setzen, keine Ziele zu haben. Etwas erreichen wollen, liegt in der Natur des Menschen. Und so ist es unser mitunter unausgesprochenes Ziel, für sich im Leben Siege anzustreben.“
Walter Mirwald, September 2015
Literatur zu Michael Groß:
Michael Groß: Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen. Salzburg 2011
Martin Krauß: Schwimmen. Geschichte, Kultur, Praxis. Göttingen 2002
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Anja Fichtel
* 17. August 1968 in Tauberbischofsheim
Fechten
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2015
Deutschlands erfolgreichste Fechterin
Mit dem zweifachen Olympiasieg 1988 in Seoul im Florett-Einzel und mit der Mannschaft, ihren fünf WM-Titeln und insgesamt 14 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ist Anja Fichtel eine der erfolgreichsten Fechterinnen weltweit und gilt als bisher erfolgreichste deutsche Vertreterin auf der Planche.
Im Alter von 17 Jahren ging Anja Fichtel 1985 in Barcelona nach dem Titelgewinn mit der deutschen Florettmannschaft als bis dahin jüngste Fechtweltmeisterin in die Sportgeschichte ein. Drei Jahre später bescherte vor allem sie dem deutschen Fechtsport bei den Olympischen Spielen in Seoul/Südkorea eine Sternstunde: Mit Gold im Einzel (Silber und Bronze gewannen damals ihre Mannschaftskolleginnen Zita Funkenhauser und Sabine Bau) sowie Gold mit der Mannschaft avancierte Anja Fichtel zum Star des Fechtturniers. Den olympischen Medaillensatz der Athletin vom Fecht-Club Tauberbischofsheim vervollständigten Silber und Bronze mit der Mannschaft bei den Spielen 1992 in Barcelona und 1996 in Atlanta. 1997 beendete sie ihre Karriere. Sieben Jahre später flirtete sie mit einem Comeback, kehrte aber nicht mehr auf die internationale Fechtbühne zurück.
Größte Erfolge:
› Olympia-Gold 1988 im Einzel und mit der Mannschaft
› Olympia-Silber 1992 mit der Mannschaft
› Olympia-Bronze 1996 mit der Mannschaft
› Weltmeisterin im Einzel 1986 und 1990
› Weltmeisterin mit der Mannschaft 1985, 1989, 1993
› Europameisterin im Einzel 1993
› Insgesamt 14 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften
› Zehnfache Deutsche Meisterin zwischen 1986 und 1996
Auszeichnungen:
› Wahl zur „Fechterin des Jahrhunderts“ (2001)
› Chevalier-Feyerick-Orden des Weltverbands FIE (1997)
› Zweiter Platz hinter Steffi Graf bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 1988
› Silbernes Lorbeerblatt
› Juniorsportlerin des Jahres (1985)
Deutschlands erfolgreichste Fechterin
Sie war gerade acht Jahre alt, als ihre Heimatstadt Kopf stand. Tauberbischofsheim hatte seine Olympiasieger und Silbermedaillengewinner der Spiele von Montreal mit einem großen Bahnhof empfangen – und Anja Fichtel kam zum ersten Mal mit Fechten in Berührung. Ein Freund ihres Bruders erzählte dem Mädchen, dass es im Fechtzentrum sogar einen Fernsehapparat im Speisesaal gäbe. Das wirkte. Anja Fichtels Weg war vorgezeichnet. „Denn jedes Kind, das nur in die Halle reinschnupperte, wurde sofort von Emil Beck eingefangen.“
Sie war nicht irgendein Kind, diese Anja Fichtel. Ihren Namen habe er auf einen Zettel geschrieben, wenn er nach kommenden Olympiasiegern aus dem von ihm begründeten Fechtzentrum gefragt wurde, erzählte Emil Beck später. Gesagt hat der große Trainer es ihr nicht während ihrer aktiven Zeit. Er forderte Leistung, nicht nur von ihr. Alle Kinder sollten die gleiche Chance bekommen. Anja Fichtel wurde unter Becks Fittichen trainiert von Degen-Olympiasieger Alexander Pusch und wurde zu einer der erfolgreichsten Fechterinnen der Welt: Olympiasiegerin allein und mit der Mannschaft, zweimal Einzel-Weltmeisterin, dreimal mit dem Team, sie gewann zehn deutsche Meisterschaften und wurde zur Fechterin des Jahrhunderts gewählt. Schon mit 15 war sie Jugend-Weltmeisterin, zwei Jahre später bei den Junioren, im selben Jahr auch schon Mannschafts-Weltmeisterin mit den Aktiven. „Ich musste ganz früh erwachsen werden, meine Jugend ist dabei auf der Strecke geblieben.“ Das scheinbar unbekümmerte Mädchen wurde zu einem Liebling der Medien, plapperte frisch drauf los, „mein Mund war manchmal schneller als mein Kopf“. In ihrer kleinen Heimatstadt war Anja Fichtel bald ein Star, „jeder hat dir auf die Schulter geklopft – da verlierst du ganz schnell das Gefühl, wer du wirklich bist“. Sie erlebte eine wunderbare Zeit, die allerdings mit einem hohen Preis bezahlt wurde. Schon in der Schule bekam Anja Fichtel die Nebenwirkungen des Erfolgs zu spüren, Neid von Mitschülerinnen. Wie ein Spießrutenlaufen empfand sie es oft, wenn sie sich in der Stadt sehen ließ. „Alle kannten mich, aber ich kannte natürlich nicht jeden.“ Und schon hatte sie den Stempel: „Die grüßt ja nicht mehr, seit sie erfolgreich ist.“ Da sie ein „ausgesprochener Gerechtigkeitsfanatiker“ ist und sich unfair behandelt fühlte, zog sich Anja Fichtel zurück, kapselte sich ab. Es gab nur noch Schule, später die Ausbildung zur Bürokauffrau und vor allem Fechten für sie. „Du hast immer dieses Fechten, Fechten, Fechten. Du hast ja kein anderes Leben.“
Dieses Fechten hat ihr Momente beschert, die bleiben, sich unvergesslich eingebrannt haben. 1988, Olympische Spiele in Seoul: Im Finale um Gold stehen sich Anja Fichtel und ihre Tauberbischofsheimer Mannschaftskollegin Sabine Bau gegenüber; Zita Funkenhauser, die Dritte im Bunde von Trainer Beck, hat schon Bronze gewonnen. Als der Olympiasieg feststeht, kann sich Anja Fichtel nicht mehr halten. Sie weint, eine halbe Stunde lang, bis zur Siegerehrung, die Anspannung, der Stress brechen sich Bahn. Tränen – der Wut, der Anstrengung – hatte es schon zuvor gegeben. Emil Beck, der Unerbittliche, brachte seine Athleten oft bis an ihre Grenzen, physisch und psychisch. Im Trainingslager vor den Spielen ließ er sie in Portugal bei hohen Temperaturen Runden laufen. „Und ich kann doch nicht laufen.“ Aber Becks Worte von damals haben sich eingeprägt: „Anja, wenn sie dir die Medaille umhängen, wirst du wissen, warum das so wichtig war.“ So wichtig: die Erfüllung aller Träume.
Der zweite Olympiasieg, gemeinsam mit Sabine Bau und Zita Funkenhauser ein paar Tage später war die Zugabe – und eine Meisterleistung von Paul Neckermann. Er war unter Cheftrainer Beck zuständig für die Florettdamen und schaffte es, „uns drei Hühner so hinzubekommen, dass wir uns im Einzel gegenseitig die Augen auskratzen und trotzdem in der Mannschaft sich jede für die andere zerreißt“. Auch das prägte Anja Fichtel. „Ich habe immer wieder überlegt, wie Paul das hinbekommen hat.“ Denn das Verhältnis zu Beck wurde zunehmend schwieriger. Anja Fichtel hielt mit Kritik nicht hinter dem Berg. Mündige Athleten hatten es jedoch schwer beim großen Meister. Tiefe Risse taten sich auf, als Anja Fichtel sich in den österreichischen Fechter Merten Mauritz verliebt hatte. Beck versuchte intensiv, das Paar auseinanderzubringen. 1990 bei der WM in Lyon – Anja Fichtel wurde Weltmeisterin – setzte er sogar einen anderen jungen Mann auf sie an, wollte sie verkuppeln. „Da war es für mich aus.“ Es kam zum Bruch, Anja Fichtel zog schon kurz nach der WM nach Wien – kein leichter Entschluss für eine gerade mal 22 Jahre alte junge Frau. In Tauberbischofsheim war ihr alles abgenommen worden, Emil Beck hatte sich stets um alles für seine Fechter gekümmert.
Anja Fichtel empfand ihren Umzug wohl gerade deshalb als Befreiung. Sie genoss es, unerkannt durch die Straßen der großen Stadt zu ziehen. Sie wollte weiter fechten, das war klar. Auch Beck wollte sie nicht ganz verlieren. Er sorgte dafür, dass sie in Wien gute Trainingsmöglichkeiten bekam. Und schon beim nächsten Weltcupturnier sprachen sich die beiden aus. „Jeder hat gesagt, was ihm auf der Seele liegt. Emil hat das sehr feinfühlig gemacht – das traute man ihm ja gar nicht so zu.“ Nein, nachtragend war er nicht – und das habe sie von ihm gelernt. So trainierte sie weiter in Wien, fuhr alle sechs Wochen für eine Woche zurück an die Tauber zur intensiven Arbeit mit Beck. Sie blieb zwölf Jahre in Österreich.
Im Juni 1992 kam ihr Sohn Laurin auf die Welt, im August gewann sie mit der Mannschaft die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen von Barcelona. Fechten war so wichtig geworden in ihrem Leben, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, Olympia wegen der Geburt des Kindes zu verpassen. Im Rückblick erkannte sie erst, dass sie es vielleicht hätte anders machen sollen. Das Kind wurde jedes Mal krank, wenn die Mutter zu einem Turnier unterwegs war. Die Belastung war Anja Fichtel anzumerken, auch Beck sah sie. Doch er kannte kein Pardon. „Du musst das hinbekommen“, sagte er. Sie wahrte den Schein, „alle denken immer, man ist so tough“. Dass sie damals funktionierte, weil sie das so gewohnt war, weil ihre Trainer das erwarteten, weil auch sie den Erfolg brauchten, wurde ihr später klar. „Privat hast du niemanden interessiert.“
Als sie mit ihrer Tochter Chiara schwanger war, erklärte Anja Fichtel im Frühjahr 1997 ihren Rückzug vom Fechtsport – schweren Herzens. Sie liebte ja diesen Sport – „und er war zur Sucht geworden“. Sie wusste, solche Glücksgefühle würde der Alltag nicht bieten. Da würde ihr niemand mehr auf die Schulter klopfen und sagen, „Glückwunsch, das hast du gut gemacht“. Und ohne den straffen Terminplan „fehlt die Struktur, du fällst in ein Loch, fühlst dich minderwertig“. Aber der Körper hatte ihr eindeutige Signale gegeben. „Es ist ja nicht so, dass ich alles aus dem Ärmel geschüttelt hätte. Es war Stress, für den Körper und für den Kopf. Meine Psyche war enorm angekratzt.“ Anja Fichtel empfand den Rücktritt als das Ende ihres Lebens als Fechterin. Auch die Ehe mit dem Sportler Mauritz litt darunter, ging in die Brüche. Anja Fichtel zog zurück nach Tauberbischofsheim, „in einem desolaten Zustand“, mit zwei kleinen Kindern. Kurz danach starb ihre Mutter. „Diese furchtbare Zeit hat mir Bodenhaftung gegeben, mich ein bisschen Demut gelehrt.“
2006 heiratete sie wieder und der jüngste Sohn Raphael wurde geboren. Ihr zweiter Mann ist neun Jahre jünger als sie, und als sie sich kennenlernten, studierte er noch – auch das sorgte in der fränkischen Kleinstadt für Aufsehen. Mit den zwölf Jahren Wien im Hinterkopf ließ sich allerdings die kleinbürgerliche Enge besser ertragen. Anja Fichtel hatte ihr Leben ohnehin neu geordnet. „Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr über den Erfolg definiere, sondern als Mensch, dass ich meine Wertigkeit selbst erkannt habe“, sagte sie. Die Familie war das Wichtigste in ihrem Leben, Fechten nur noch Nebensache – und ein Job. Sie arbeitete Teilzeit im Fechtzentrum, zunächst im Büro, später als Trainerin für den Fecht-Nachwuchs. Auch ihre beiden älteren Kinder fochten einige Jahre lang. „Leider sind sie nicht so gefördert worden wie wir früher“ – was wohl auch damit zu tun gehabt hätte, dass sie die Kinder der unbequemen Anja Fichtel seien, meinte sie. Einige im Fechtzentrum hätten nicht gewollt, dass sie genauer hinschaute, Trainingsmethoden hinterfragte.
Denn das war sie geblieben: die Unbequeme. „Ich bin eben ein Löwe – wenn auch mittlerweile ein bisschen gezähmt.“ Es tat ihr weh, zusehen zu müssen, wie das einst in der Welt führende Fechtzentrum mehr und mehr an Bedeutung verlor. Deshalb nahm sie den Vertrag an als Koordinatorin für den Nachwuchs, entwarf während einer Krankheitspause von einem halben Jahr wegen Rückenproblemen ein Konzept, mit dem Kinder für den Sport gewonnen werden sollen und kämpfte dafür, alte Verkrustungen aufzubrechen und frischen Wind in den Olympiastützpunkt zu bringen. Sie wollte zeigen, „was Fechten für ein toller Sport ist“. Sie liebt ihn nach wie vor – „ich habe ihn im Blut, ich kann nichts so gut wie fechten“.
Dabei brauchte sie die Erinnerung an alte Erfolge nicht mehr. Nicht die Bilder an der Wand des Fechtzentrums, nicht die Medaillen und Pokale. Ein Teil davon liegt im Keller ihres Vaters, ein anderer in ihrem Spind in der Umkleide des Olympiastützpunktes. „Mein Leben lief schon ein bisschen anders, als ich es mir vorgestellt hätte – aber das ist auch gut.“ Sie gewann, auch inspiriert durch ihren Mann, der Lehrer für Englisch, Deutsch und Religion ist, ein Gottvertrauen. „Und das macht das Leben leicht.“ Sie lernte, nicht jedes Problem selbst lösen zu müssen: „Verpacke es und schicke es nach oben, schicke es Gott.“ Sie, die aus dem Kampf kam, kann mittlerweile „einfach auch etwas sein lassen“. Sie lässt sich nicht beliebig vermarkten, Geld ist ihr nicht wichtig. In ihrem zweiten Leben zählen andere Werte. „Und so bin ich richtig glücklich.“
Christine Moravetz, September 2015
Literatur zu Anja Fichtel:
Deutscher Fechter-Bund, Andreas Schirmer: En Garde! Allez! Touché!: 100 Jahre
Fechten in Deutschland – eine Erfolgsgeschichte. Aachen 2011
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Boris Becker
* 22. November 1967 in Leimen
Tennis
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2015
Der 17-Jährige aus Leimen
Boris Becker ist der erfolgreichste deutsche Tennisspieler und löste 1985 mit seinem Wimbledon-Sieg einen Tennis-Boom in Deutschland aus. In 15 Jahren als Profi von 1984 bis 1999 gewann er sechs Grand-Slam-Turniere und feierte insgesamt 64 Turniersiege.
Bis heute ist Boris Becker nach dem Vier-Satz-Sieg über den Südafrikaner Kevin Curren mit 17 Jahren der jüngste Wimbledon-Sieger. Ein Jahr später, 1986 im Finale gegen den Tschechoslowaken Ivan Lendl, triumphierte er erneut auf dem Rasen des bedeutendsten Tennisturniers. Im Jahr 1989 siegte er gegen den Schweden Stefan Edberg zum dritten Mal im Finale. Vier weitere Male erreichte Becker das Endspiel seines erklärten Lieblingsturniers im Londoner Stadtteil. Bei den anderen Grand Slams gelangen ihm drei Siege: 1989 bei den US Open in New York sowie 1991 und 1996 bei den Australian Open in Melbourne.
Zu weiteren herausragenden Erfolgen zählen der dreimalige Gewinn der ATP-Weltmeisterschaft in den Jahren 1988 (damals „Masters“), 1992 und 1995 sowie der Olympiasieg 1992 in Barcelona im Doppel mit Michael Stich. In den Jahren 1988 und 1989 führte Boris Becker die deutsche Mannschaft zum Sieg im Davis Cup.
Beckers offensives Spiel brachte ihm zu Karrierebeginn den Namen „Bum-Bum-Boris“ ein. Infolge seiner Siege rückte Tennis in Deutschland zum populärsten Zuschauersport nach Fußball auf. Viermal wurde Becker zum Sportler des Jahres gewählt. Ende des Jahres 2013 kehrte er als Trainer des serbischen Weltranglistenersten Novak Djokovic sehr erfolgreich in das internationale Tennis-Geschehen zurück.
Größte Erfolge:
› Sechs Grand-Slam-Titel:
› Dreimal Wimbledon (1985, 1986, 1989)
› Zweimal Australian Open (1991, 1996)
› Einmal US Open (1989)
› Olympia-Gold 1992 mit Michael Stich im Doppel
› Dreimal ATP-Weltmeister (bis 1989 Masters) 1988, 1992, 1995
› Davis-Cup-Sieger 1988 und 1989
› Insgesamt 49 Turniersiege im Einzel und 15 im Doppel
› Zwölf Wochen lang die Nummer 1 der Weltrangliste
Auszeichnungen:
› Aufnahme in die International Tennis Hall of Fame (2003)
› Gründungsmitglied der Laureus World Sports Academy (2000)
› Deutscher Fernsehpreis – Sonderpreis (1999, gemeinsam mit Steffi Graf)
› Viermal Sportler des Jahres (1985, 1986, 1989, 1990)
› Europas Sportler des Jahres (1986, 1989)
› Silbernes Lorbeerblatt (1985)
› Bambi (1985)
Der 17-Jährige aus Leimen
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage kennt jeder. Wäre ich nicht rechts abgebogen, sondern links; hätte ich nicht auf den Rat des Tutors, sondern auf den der Tante gehört; wäre ich früher aufgewacht oder schneller gewesen? Je voller ein Leben ist, desto mehr Fragen liegen auf dem Tablett, aber manchmal geht es um Momente, auf die man gar keinen Einfluss hatte. Was also wäre passiert, hätte der Amerikaner Tim Mayotte in einem Spiel der vierten Runde der All England Championships 1985 nicht an der Grundlinie gestanden, als ihm der verletzte Gegner zum Zeichen der Aufgabe am Netz die Hand reichen wollte?
Dieser Gegner hieß Boris Becker, war 17 Jahre alt und schien wild entschlossen zu sein, alles über den Haufen zu rennen. Keine zwei Wochen zuvor hatte er bei einem Rasenturnier im Londoner Queen’s Club den ersten Titel seiner Karriere bei den Profis gewonnen, und die Sieger von Queen’s zählen traditionell zu den aussichtsreichen Kandidaten in Wimbledon. Doch dann humpelte dieser große, rotblonde Junge nach einem Sturz mit schmerzendem Knöchel Richtung Netz – und Mayotte stand zu weit weg. Also setzte sich Becker auf seinen Stuhl, hörte die Stimme seines Managers Ion Tiriac, der draußen neben Trainer Günther Bosch saß und schrie: „Boris! Drei Minuten! Drei!“, und begriff – er verlangte vom Schiedsrichter eine Auszeit zur Behandlung. Als sich der angeforderte Physiotherapeut endlich durch die Masse der Zuschauer zum Außenplatz gekämpft hatte, sagte der Schiedsrichter: „Die Zeit ist um.“ Becker protestierte, forderte den Oberschiedsrichter zur Klärung der Angelegenheit an, und der gab grünes Licht. Der Fuß wurde verarztet, der Patient ging zurück ins Spiel, und 20 Minuten später hatte er das Ding gewonnen.
Ein paar Tage später, am 7. Juli, gewann der ungestüme Teenager aus dem Badischen mit einem Sieg gegen Kevin Curren den Titel beim berühmtesten Tennisturnier der Welt – als Jüngster, als erster deutscher und als erster ungesetzter Spieler. Wie die Sache weiter gegangen wäre, hätte Tim Mayotte nicht an der Grundlinie gestanden, sondern bereit zum Handschlag am Netz?
Es spricht vieles dafür, dass Becker diesen Titel und viele andere ohnehin irgendwann gewonnen hätte. Er hatte ja schon gut ein halbes Jahr zuvor bei den Australian Open in Melbourne im Viertelfinale gespielt (das Turnier fand damals im Dezember statt), und es gab reichlich Hinweise darauf, dass er es drauf hatte, die Welt des Tennis aufzumischen. Aber vielleicht hätte ihn die Lawine, die er mit dem Sieg lostrat, ein oder zwei Jahre später nicht so heftig durchgeschüttelt. Was der 7. Juli 1985 auslöste, sowohl in Beckers eigenem Leben als auch im deutschen Sport, das konnte keiner ahnen. Am Tag vor dem Finale hatte er sich noch von seiner Mutter Elvira ein paar Walzerschritte zeigen lassen, weil er dachte, beim Champion’s Dinner müsse er mit der Siegerin tanzen (den Tanz gab es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr), doch dann drehte sich auf einmal sein ganzes Leben im Kreis, und Deutschland spielte verrückt. Dieser 7. Juli war der Tag, an dem Beckers Kindheit und Jugend innerhalb weniger Stunden zu Ende gingen.
Alles, was danach passierte, hatte irgendwie mit dem Moment des Sieges zu tun, der in seiner Bedeutung in der deutschen Sportgeschichte auf einer Ebene mit Max Schmelings Titelgewinn als Boxweltmeister aller Klassen und mit dem Triumph der Fußball-Nationalmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 in Bern steht. Wegen der globalen Bedeutung, aber auch wegen des Knalleffekts.
Innerhalb weniger Jahre lernten Großmütter, was es mit zweitem Aufschlag oder Breakball auf sich hatte, weil Tennis auf einmal im Fernsehen übertragen wurde wie sonst nur Fußball oder die Wettbewerbe Olympischer Spiele. Und fast alles, was Becker sagte, tat oder vorhatte, landete in dicken Lettern in Zeitungen und Magazinen. Im Bekanntheitsgrad stand er mit dem Bundeskanzler oder Bundespräsidenten bald auf einer Stufe – wenn nicht sogar ein paar Zentimeter darüber. Und das war nicht nur in Deutschland so; diesen jungen Mann, der in kein Schema passte und der es fast immer schaffte, aus einem ganz normalen Spiel ein Drama zu machen, kannten und erkannten die Leute zwischen Finnland und Fidschi bald überall. „Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen“, hatte die Washington Post nach dem großen Sieg geschrieben. Er hatte danach lange Zeit keine Chance, sich aus der Umklammerung zu befreien. In seiner ersten Autobiografie („Augenblick, verweile doch“), die 2003 erschien, schrieb er über das Jahr danach: „Es war ein unmenschlicher Druck nach dem ersten Titel. Ich durfte nichts mehr. Adieu Freiheit. Nur noch das Spiel zählte.“
Doch zwölf Monate nach dem Urknall gewann er den Titel in Wimbledon zum zweiten Mal. Im Gegensatz zum ersten, an den sich die halbe Welt erinnern kann, ist vom zweiten weniger hängen geblieben. Dabei ist der, gerade wegen der Vorgeschichte und wegen der Kollektion von Verrücktheiten, vermutlich jener mit dem größten Wert unter den 49 Titeln seiner Karriere.
Becker gewann Grand-Slam-Titel in New York (1989) und in Melbourne (’91 und ’96), aber Wimbledon war für ihn Fixstern und Sehnsuchtsort. Drei Titel holte er im All England Club (’85, ’86 und ’89), weitere vier Mal spielte er im Finale (’88, ’90, ’91 und ’95). Barbara Feltus, Beckers erste Frau, sagte mal, für ihren Mann habe es immer nur drei Jahreszeiten gegeben – die Zeit vor Wimbledon, Wimbledon und die Zeit nach Wimbledon. Und so hätte es keinen besseren Ort für das letzte Spiel seiner schillernden, aufregenden Karriere geben können als den berühmten grünen Centre Court, auf dem er sich im Achtelfinale 1999 im Spiel gegen den Australier Pat Rafter verabschiedete.
Nach mehr als insgesamt 900 Spielen standen am Ende 713 Siege im Einzel zu Buche, darunter zwar keiner im Finale eines Sandplatz-Turniers, aber 38 im Davis Cup. Als er im Frühjahr ’85 zum ersten Mal für Deutschland im wichtigsten und traditionsreichsten Mannschaftswettbewerb des Tennis spielte, hatten die meisten der Zuschauer noch keine konkrete Vorstellung, was sie von diesem Teenager halten sollten, der mit einer kecken schwarzen Lederkappe erschienen war. Beim zweiten Auftritt, fünf Monate später und knapp einem Monat nach dem ersten Triumph in Wimbledon, erlebte Deutschland am Hamburger Rothenbaum zum ersten Mal Fußballatmosphäre auf den Rängen eines Tennisstadions. Die Leute brüllten, trampelten und schwenkten Fahnen, und mehr als ein Jahrzehnt lang war der Davis Cup in Deutschland ein ganz großes Ding. Becker trug maßgeblich zu den Triumphen der Jahre ’88 (in Göteborg gegen Schweden) und ’89 (in Stuttgart gegen Schweden) bei. Zu seinen Fans gehörte Teamchef Niki Pilic, der einmal sagte: „Wenn andere Spieler einen Willen haben, der zwei Tonnen schwer ist, wiegt der von Boris 22. Da gibt es Dinge, die man nicht sehen kann.“
Pilic, einst selbst einer der besten Spieler der Welt, war jedenfalls maßgeblich daran beteiligt, dass Becker mit Partner Michael Stich bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona die Goldmedaille im Doppel gewann. Stich hatte Becker 1991 zur allgemeinen Überraschung den vierten Wimbledontitel weggeschnappt, und die gemeinsame Kommunikation während der Spiele in Spanien tendierte stark gen Null. Jahre später versicherten beide, natürlich hätten sie im Streben danach, besser als der andere zu sein, auch voneinander profitiert.
Der Tennisspieler Becker verabschiedete sich 1999 von seinem Publikum, und er tat sich nicht leicht mit dem Übergang. Es sei ihm bewusst, sagte er, dass er in keinem Job der Welt jemals so gut sein würde wie in diesem. Die ersten Jahre im neuen Jahrtausend waren geprägt von Turbulenzen, geschäftlich wie privat. Seine Ehe wurde geschieden, und im Oktober 2002 verurteilte ihn das Landgericht München I wegen Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. In seiner ersten Biografie schrieb er über diese Zeit: „Plötzlich wurden Ruhm und Reichtum zur Priorität meines Lebens, ich war fremdbestimmt und auf dem besten Weg, mich zu verlieren. Ich habe einen exzessiven Drang, an Grenzen zu gehen. Leben heißt für mich, Schmerzen zu ertragen und Freude zu spüren. Nur dann fühle ich mich wahrhaftig.“
In Deutschland fühlte er sich oft missverstanden, in England, wo er später in der Nähe des All England Clubs ein Haus kaufte, ging es ihm gut. Er blieb Wimbledon treu, kommentierte jahrelang für die BBC während des Turniers und arbeitete auch für andere Fernsehsender, auch in Deutschland. Im Juni 2009 heiratete er die Niederländerin Sharlely (Lilly) Kerssenberg, im Februar 2010 kam der gemeinsame Sohn Amadeus zur Welt, Beckers viertes Kind nach den Söhnen Noah und Elias aus der ersten Ehe und der unehelichen Tochter Anna in London. Er ist Vorsitzender der Laureus Sports for Good Foundation, außerdem ist er Gründungsmitglied der Laureus World Sports Awards, der Auszeichnungen für die besten Sportler der Welt.
Doch mit lautem Knall kehrte er aus der Kommentatorenkabine ins Spiel zurück. Im Dezember 2013, kurz vor Weihnachten, verkündete der Serbe Novak Djokovic, Becker sei ab sofort Chefcoach in seinem Team. Die Nachricht schlug mit ähnlicher Geschwindigkeit ein wie die massiven Aufschläge des neuen Chefs anno dazumal; damit hatte niemand gerechnet. Mit Becker im Team übernahm Djokovic nach seinem zweiten Wimbledonsieg im Sommer 2014 wieder die Spitze der Weltrangliste, gewann im Januar 2015 den fünften Titel bei den Australian Open und ein halbes Jahr danach den dritten in Wimbledon. Stolz und gerührt sah er Djokovic siegen, und er stand dabei auf der Tribüne keine drei Meter von jener Stelle entfernt, an der Karl-Heinz Becker einst Fotos vom Sieger geschossen hatte, seinem 17 Jahre alten Sohn.
Doris Henkel, September 2015
Literatur zu Boris Becker:
Boris Becker: Augenblick, verweile doch. Autobiografie. Gütersloh 2003
Robert Lübenoff: Advantage Becker. Berlin 1997
Herbert Riehl-Heyse (Hrsg.), Boris Becker: Boris B. 18 Autoren, 1 Phänomen. Stuttgart 1992.
Boris Becker: Das Leben ist kein Spiel. München 2013
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Dr. Arnd Schmitt
* 13. Juli 1965 in Heidenheim
Fechten
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Medaillensammler auf der Planche
Als zweimaliger Olympiasieger, Einzel-Weltmeister und mit insgesamt 16 Olympia- und WM-Medaillen ist Arnd Schmitt einer der erfolgreichsten deutschen Fechter. Er erreichte bei allen großen Wettkämpfen Spitzenplatzierungen und gewann dreimal den Degen-Weltcup.
Schmitt begann seine Karriere in seiner Geburtsstadt Heidenheim und wechselte nach einem zweijährigen Zwischenstopp in Tauberbischofsheim 1986 zum TSV Bayer 04 Leverkusen. Schon in jungen Jahren hatte das „Jahrhunderttalent“ (Fechter-Ehrenpräsidentin Erika Dienstl) Anteil an den Mannschafts-WM-Titeln der deutschen Degenfechter 1985 in Barcelona und 1986 in Sofia. Ein Jahr später sicherte sich Schmitt erstmals den Sieg im Weltcup, zudem WM-Silber mit dem Team.
1988 in Seoul gelang Schmitt dann der „Sieg, der alles zählt“: Im Olympia-Finale gegen den Franzosen Philippe Riboud siegte er nach 8:8-Gleichstand im „Sudden Death“. In den folgenden Jahren sammelte Schmitt weiter Medaillen: 1990 als WM-Dritter im Einzel, 1991 als WM-Dritter im Team, 1992 in Barcelona als Olympiasieger mit der Mannschaft. Bei der Heim-WM 1993 in Essen gewann er gleich zwei Medaillen: Silber im Einzel und Bronze mit der Mannschaft. Auch von den Weltmeisterschaften 1994 in Athen, 1995 in Den Haag und 1997 in Kapstadt kehrte Schmitt mit Edelmetall nach Hause zurück. Lediglich 1996 in Atlanta verpasste er mit den Plätzen vier (Mannschaft) und zehn (Einzel) den Sprung aufs Siegerpodest, erfuhr jedoch als Fahnenträger der deutschen Olympiamannschaft zur Eröffnungsfeier große Ehre.
1999 war die südkoreanische Hauptstadt Seoul wie schon elf Jahre vorher ein goldenes Pflaster für Schmitt: Erstmals wurde er Einzel-Weltmeister und gewann zudem Silber mit der Mannschaft. Dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte, bewies er 2000, als er zum dritten Mal nach 1987 und 1991 im Weltcup vorne lag. Beim Saisonhöhepunkt in Sydney, seinen vierten Olympischen Spielen, verfehlte er indes eine weitere Medaille. Während seiner Karriere engagierte sich Arnd Schmitt, der 1993 die Ausbildung zum Zahnarzt beendete, als Athletensprecher im Deutschen Fechter-Bund sowie im Deutschen Sportbund und in dieser Eigenschaft auch als Mitglied des Stiftungs-Vorstands der Deutschen Sporthilfe. Ab 2002 war er persönliches Mitglied im Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland, heute engagiert er sich als Kuratoriumsmitglied der Sportstiftung NRW.
Größte Erfolge:
› Zweimaliger Olympiasieger: im Einzel 1988, mit der Mannschaft 1992
› Olympia-Silber Mannschaft 1988
› Weltmeister Einzel 1999
› Weltmeister Mannschaft 1985, 1986, 1995
› WM-Silber 1993 (Einzel), 1987, 1994, 1997, 1999 (Mannschaft)
› WM-Bronze 1990, 1994 (Einzel), 1991, 1993 (Mannschaft)
› Europameister Einzel 1995
› EM-Silber Einzel 1994
› EM-Bronze Mannschaft 1999
› Weltcup-Sieger 1987, 1991, 2000
Auszeichnungen:
› Aufnahme in die Hall of Fame des Weltverbands FIE (2013)
› Fahnenträger Olympische Spiele 1996
Medaillensammler auf der Planche
Vielleicht würde Arnd Schmitt besser mal häufiger nach seiner Goldmedaille schauen. „Die liegt im Safe. Herausgeholt habe ich sie letztmals vor ein paar Jahren“, erzählt der 50-Jährige. Kurze Pause, dann lacht er wie ein Schuljunge. Weil ihm der Gedanke durch den Kopf schießt, dass in Zeiten der Bankenkrisen vielleicht auf Geldinstitute nicht hundertprozentig Verlass sein könnte.
In diesem Moment der Heiterkeit bahnt sich große Lebensfreude durch die Diszipliniertheit und Zielstrebigkeit, die ein zentrales Wesensmerkmal des weltbesten Degenfechters seiner Ära ist. Das galt für den Sportler und gilt für den Menschen. Erkennbar in seiner Rolle als Musketier, schon vor dem Olympiasieg 1988 bis zu Beginn des neuen Jahrtausends. Und in seinem Beruf als Zahnarzt, den er seit 2002 in der gemeinsamen Praxis mit seinem Bruder Ulrich in Bergisch Gladbach ausübt.
Jetzt, wo Schmitt in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen worden ist, wird er sicher noch mal einen Blick auf das gute Stück werfen. Das beste seiner Sportkarriere, in der er alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt. Olympia, WM, EM, Weltcup und das Masters. „Der Olympiasieg ist für mich selbstverständlich das nachhaltigste Erlebnis“, sagt Schmitt: „Die Erinnerungen habe ich aufgesaugt. Sie werden mir wahrscheinlich noch ein Lächeln ins Gesicht zaubern, wenn ich irgendwann in der Kiste liege.“
Die Bilder von Seoul 1988: Zärtlich küsst der damals 23-Jährige im Trainingsanzug aus Ballonseide das Edelmetall, und dann gibt es noch diese unmittelbar nach dem gewonnenen Finalgefecht entstandene Aufnahme, die wie keine andere den Wert seines Triumphs für die deutschen Musketiere spiegelt. Die Teamkollegen werfen ihn in die Höhe, Schmitt hat noch den Degen in der rechten Hand, rammt ihn glückstrahlend in die Luft. Wirkt wie ein Schulbub. Ist wohl was dran, dass das Kind im Manne nie ganz verloren geht. Schön, dass dies nicht zuletzt für großartige Sportler wie Arnd Schmitt gilt.
Wenn er annum 2016 in weißer Hose und orangefarbenem Poloshirt mit dem geschwungenen Schriftzug „Dr. Arnd Schmitt“ auf der rechten Brustseite die Patienten in seiner Praxis begrüßt, dann wirkt er so, wie er schon zu seiner Aktivenzeit war: Unglaublich organisiert und strukturiert. Er brachte es fertig, samstags noch ein Weltcupturnier in Montreal zu bestreiten und trotzdem am Montagmorgen wieder pünktlich im Hörsaal der Universität Bonn zu sitzen. Dort trieb er sein Zahnmedizin-Studium voran. „Klar war ich öfter müde, aber als schlimme Belastung habe ich das nie empfunden“, erinnert Schmitt, der das Paradebeispiel einer gelungenen dualen Karriere verkörpert.
Einmal war er nach einem Turnier auf dem Rückweg vom Frankfurter Flughafen im Zug eingeschlafen. Wurde erst in Köln wach. Was nun? Investierte in ein Taxifahrt, und schaffte es noch rechtzeitig zur Vorlesung. Durchhaltevermögen, Zielstrebigkeit und Improvisationsvermögen - nicht jedem ist sie im Übermaß gegeben wie Arnd Schmitt. Nur so konnte er zum Besten seiner Sportart werden, die eine ganz besondere Kombination aus Ausdauer, Geduld, genauer Beobachtung, Mut und blitzschneller Reaktion erfordert. Als Vorbild taugt sein Weg allemal. Deshalb moderiert er auch mit großer Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft im Auftrag der NRW Sportstiftung die regelmäßigen Treffen von Olympioniken der Gegenwart mit Wirtschaftsvertretern. Dabei werden Praktika und karrierebegleitende Ausbildungen angebahnt.
Als Schmitt 2001 seine Karriere beendete, hatte er seinen weiteren Weg ziemlich präzise geplant. 2002 heiratete er seine Frau Stephanie, die er in Bonn kennengelernt hatte, eröffnete im Bergisch Gladbacher Stadtteil Bensberg in Sichtweite des Schlosses die gemeinsame Zahnarztpraxis mit seinem Bruder – nach wie vor beider Broterwerb. Zwischen 2003 und 2008 wurden seine Töchter Amelie, Lilly und Mathilda geboren. Das nennt man einen Lauf. Besser noch: Das reine Glück.
Was Schmitt sich vornimmt, zieht er durch, auch gegen Widerstände. Er ist einer, bei dem das Glück nicht einem Zufallsprinzip oder dem Schicksal zu folgen scheint. Es wirkt wie ein logisches Resultat von guter Planung und Fleißarbeit. Seit 1985 zählte er so konstant wie kein Zweiter in seinem Metier zu den Top Ten der Weltrangliste. Hörte erst 2001 im Alter von 35 Jahren auf. „Erst, als ich“, wie er sagt, „alles abgehakt hatte“. Meint Titelgewinne. Auf den ersten WM-Sieg 1999 hatte er am längsten warten müssen. Direkt danach aufhören? „Kam nicht in Frage. Dafür war Olympia zu nahe. Und dieses Erlebnis ist nach wie vor das Größte.“
Als Weltranglistenerster angereist, schloss er Sydney 2000 als Neunter ab, mit der Mannschaft als Fünfter. Mehr als die bei seinen vierten Spielen verpasste Medaille beschäftigt ihn irgendwo tief drinnen, dass er zum angekündigten Karriereende 2001 nicht den dritten Sieg bei seinem Heimturnier in Heidenheim geschafft hat. Beim einstigen „Wimbledon des Fechtens“, wie er es nennt.
Der dreimalige Triumph in Heidenheim ist bis heute keinem gelungen, auch nicht dem Russen Pawel Kolobkow oder dem Kubaner Ivan Trevejo. Das waren die großen Kontrahenten seiner Zeit. Gegen fast alle hat Schmitt unter dem Strich eine positive Bilanz. Warum? „Siege waren schön, aber aus Niederlagen habe ich gelernt“, sagt Schmitt. Und: „Trevejo hat mir als einziger wirklich nicht gelegen.“
Atlanta 1996, der Kubaner ist sein Achtelfinal-Gegner, 8:15 verliert Schmitt. Das Medien-Echo tut weh. Klar, vom Seoul-Olympiasieger, jetzt im besten Athletenalter, war mehr erwartet worden. Zumindest Edelmetall, bestenfalls Gold. So sind die Mechanismen. Es wird heiß diskutiert, ob Schmitt nicht besser auf die Teilnahme an der Eröffnungsfeier am Tag vor dem Auftakt der Fechtwettkämpfe verzichtet hätte. Um hundertprozentig fit zu sein.
„Diese Ehre, dieses Erlebnis, die deutsche Fahne ins Stadion zu tragen – diese Chance bekommt man nur einmal im Leben“, sagt der damalige Aktivensprecher im Rückblick. „Das konnte ich nicht ablehnen.“ Zudem ist er davon überzeugt, dass die körperliche Belastung durch das stundenlange Gehen und Stehen beim Einmarsch der Nationen nicht der Grund seines Ausscheidens war. „Trevejo war einfach so unglaublich blitzschnell“, erinnert Schmitt. Der einzige Gegner, den er nicht entschlüsseln konnte.
Die Niederlage 1996 tat ihm sehr weh. Noch mehr aber vielleicht jene, die er 2001 im Achtelfinale in Heidenheim im letzten Gefecht seiner großen Karriere gegen Fabrice Jeannet aus Frankreich kassierte. Weil Schmitt sie in seiner Heimatstadt erlitt, in seinem „Wohnzimmer“. Vor allem aber, weil er sie nicht mehr gutmachen konnte. „Jeannet ist der einzige Gegner“, hadert Schmitt, „gegen den ich nie gewonnen habe“. Auch wenn er nur diesen einen Vergleich mit dem jungen Franzosen hatte. Ein Punkt, den er nicht mehr abhaken konnte. „Weil ich mein Karriereende ja schon geplant, beschlossen und verkündet hatte.“ So ticken Perfektionisten.
In Heidenheim liegt auch der Schlüssel zu der Frage, warum Arnd Schmitt überhaupt Fechter geworden ist. Seine Eltern hatten ihn zur Leichtathletik geschickt. Er war Bezirksmeister im Hochsprung und Hürdenlauf. „Außerdem habe ich wie die meisten Jungs Fußball gespielt“, sagt Schmitt, „doch Heidenheim war damals gefühlt ungefähr in der 18. Liga.“ An erfolgreichen Fechtern herrschte in seiner Geburtsstadt jedoch keine Mangelware. Und es gab das Weltcupturnier, bei dem jährlich die Weltelite zu Gast war.
„Die ganze Stadt hat das gelebt, die Topathleten wurden privat untergebracht“, erzählt Schmitt. Sein Bruder und er rannten von Kindesbeinen an jedes Jahr zum Fechtturnier und waren ruck zuck angefixt. Sie sahen Alexander Pusch, den Olympiasieger und Weltmeister. Inspiration für die Schmitt-Brüder: „Ich war vielleicht zehn Jahre, da haben wir Plastikbälle aufgeschnitten, Löcher reingestanzt, einen Gummi drangespannt und uns so Schutzmasken gebastelt. Dann haben wir mit Plastikschwertern gefochten.“
Als der ältere der beiden zwölf war, gaben die Eltern dem ständigen Bohren der Jungs nach: Endlich durften sie in den Fechtclub. „Mein Bruder war noch talentierter als ich – bis ins Juniorenalter konnte ihm keiner das Wasser reichen“, sagt der, der die große Karriere machte: „Aber dann hat ihm eine Knieverletzung einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
20 Jahre nach seinem Triumph von Atlanta blättert Arnd Schmitt in der Illustrierten SPORTS vom August 1996. Ein wenig vergilbt sind die Seiten. Mit Bildern, die von einer Zeit zeugen, in der Fußballstar Mehmet Scholl mit einer Haarpracht gesegnet ist, die ihn zur Shampoo-Werbefigur prädestiniert. Und Radprofi Erik Zabel im Rückblick auf die Coca-Cola-Spiele nach seinem stressfreien 20. Platz im Straßenrennen großkotzig losledert: „Vom Olaf Ludwig seiner Vorabzugsteuer, die er jeden Monat entrichten muss, bezahlt der 15 Mann vom A-Kader bar.“
Die Kommerzialisierung ist in dem Heft thematisiert, ein Interview mit Schmitt mit der Überschrift „Der verkaufte Athlet“ versehen. Damals sagte er: „Es geht nicht mehr um die Athleten, sondern um die Vermarktung. Wir müssen aufpassen, dass Olympische Spiele nicht zu einer Zirkusveranstaltung verkommen.“ 2016 meint Schmitt: „Wir haben immer noch die selben Probleme.“
Er war Mahner, kritischer Geist. Warnte vor Fehlentwicklungen. Sagt zwei Jahrzehnte später: „Leider ist es mit dem Fechten genau so abwärts gegangen, wie ich es kommen gesehen habe.“ Engagierte sich aber nicht in seiner Herzensportart, weil ihn das Gefühl beschlich: „Wenn ich einen Schritt mache, dann torpedieren das fünf andere.“ Dafür war ihm seine Zeit zu schade.
Arnd Schmitt, der Rebell. So sahen ihn viele. So wurde er in den Medien verkauft. Ein Bild, das ihm nicht gefällt: „Der Begriff ist plakativ, aber beschreibt mich nicht im Kern“, erklärt Schmitt. „Ich habe einfach immer nur seine Meinung gesagt, keinen Wert darauf gelegt, Everybodys Darling zu sein.“ Liebling von Emil Beck war er am allerwenigsten. Schmitt kam mit dem damaligen Übervater des deutschen Fechtsports nicht klar, wollte nicht nach der Pfeife des 2006 verstorbenen Tauberbischofsheimer Patriarchen tanzen. Beide kreuzten später sogar vor Gericht die Klingen.
Als Kind der Tauberbischofsheimer Talentschmiede möchte Schmitt nicht bezeichnet werden: „Meine Ausbildung habe ich vor allem in Heidenheim bekommen.“ Nach zwei Jahren an der Tauber (ab 1986) zog er weiter. Bonn passte als Studienort, Bayer Leverkusen als Verein. Den Löwenanteil an seinen Erfolgen schreibt er den Trainern Manfred Kaspar in Bonn und Gabor Salomon in Leverkusen zu. „Mit ihnen habe ich die meiste Zeit verbracht, sie haben mich weitergebracht.“
Kaspar und Salomon waren, so Schmitt, die Väter seines Erfolges. Nicht Beck. Viele Sportler hätten sich aus Angst vor Repressalien nicht getraut, Kritik zu äußern. „Wenn mal einer etwas kritisiert, dann wird er gnadenlos niedergemacht“, meinte selbst Becks Musterschülerin Anja Fichtel. „Der, der dann etwas sagt“, erklärt Schmitt im Rückblick, „gilt gleich als Rebell“. Was er damit ausdrücken will: Ein Mann mit Rückgrat muss kein Rebell sein. Taugt aber als Aktivensprecher. Wie Schmitt, der völlig unverdächtig ist, Funktionärsposten als Karriereleiter angestrebt zu haben. „Ich war Aktivensprecher, weil ich die Notwendigkeit sah, das System zu verbessern“, sagt er. Zu einem nennenswerten Engagement im Fechtverband kam es nie, weil Schmitt sich „abgeschmettert, belächelt, ignoriert“ fühlte. Familie und Beruf wurden für ihn zusehends wichtiger.
2016 sagt Schmitt: „Das Arbeitsleben fühlt sich anstrengender an, auch wenn ich damals die Doppelbelastung durch Sport und Studium hatte.“ Und wieder spricht der Realist und nüchterne Pragmatiker in ihm: „Es war mir immer bewusst, dass nach der Karriere nicht mehr der rote Teppich für mich ausgerollt wird und ich meine Brötchen genauso hart erarbeiten muss wie andere Menschen auch.“ Sollte es mal besonders dicke kommen, kann er als Motivationsmittel das beste Goldstück seiner Karriere aus dem Banksafe holen. „Ich muss die Medaille nicht sehen. Die Hauptsache ist, dass ich weiß, wo sie ist“, sagt er – mit dem Schuljungen-Ausdruck im Gesicht.
Berthold Mertes, Juli 2016
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Frank Wieneke
* 31. Januar 1962 in Hannover
Judo
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Als Judoka und Trainer auf dem Olymp
Frank Wieneke hat deutsche Judo-Geschichte geschrieben. 1984 machte ihn der überraschende Olympiasieg in Los Angeles zum Aushängeschild der westdeutschen Judosportler. Seinem größten Erfolg ließ er später EM-Gold und Olympia-Silber folgen. 24 Jahre nach Los Angeles führte er als Bundestrainer Ole Bischof in Peking zum Olympiasieg.
Seine größten Erfolge feierte der Halbmittelgewichtler vom VfL Wolfsburg bei Olympischen Spielen. In Los Angeles war er 1984 mit 22 Jahren die große Überraschung, als er den Weltmeister und viermaligen Europameister Neil Adams aus Großbritannien im Finale bezwang. Sein tief angesetzter Schulterwurf brannte sich ins Gedächtnis der Fans ein. Nach dem Olympiasieg machte Wieneke ein Tief durch, kam dann aber 1986 in Belgrad als Europameister zur nächsten internationalen Medaille. Bei der Heim-WM 1987 in Essen schied er früh aus. 1988 in Seoul schlug dann wieder seine Stunde und er gewann Silber. Im Finale erzielte der Pole Waldemar Legien wenige Sekunden vor Schluss die entscheidende Wertung. Zu weiteren herausragenden Erfolgen in Wienekes Karriere zählen EM-Silber 1988 und 1989, die Siege 1986 beim renommierten Tournoi de Paris, 1989 beim internationalen Turnier von Potsdam sowie bei zwei German Open (1984, 1986) und fünf Deutsche Meisterschaften. Mit der damaligen Wolfsburger Topmannschaft gewann Wieneke 1981 den Europapokal und wurde 1986, 1987, 1989 und 1990 Deutscher Mannschaftsmeister.
Nach der Karriere schlug er die Trainerlaufbahn ein und betreute zunächst die männliche Jugend des Deutschen Judo-Bundes (DJB). Als Bundestrainer von 2000 bis 2008 gelang Wieneke der größtmögliche Erfolg: 2003 führte er Florian Wanner in Osaka zur Weltmeisterschaft, 2008 Ole Bischof in Peking zum Olympiasieg, was ihm Analogien zu Franz Beckenbauer und Heiner Brand einbrachte. Danach wechselte Wieneke als wissenschaftlicher Referent an die Trainerakademie Köln. Die Deutsche Sporthilfe berief ihn 2010 in ihren Gutachterausschuss, der Deutsche Olympische Sportbund 2015 in seine neu geschaffene Trainerkommission.
Größte Erfolge:
› Olympiasieger 1984
› Olympia-Silber 1988
› Europameister 1986
› EM-Silber 1988, 1989
› WM-Fünfter 1989
› Trainer von Ole Bischof bei seinem Olympiasieg 2008
Auszeichnungen:
› Aufnahme in den Gutachterausschuss der Sporthilfe (2010)
› Judo-Trainer des Jahres 2008 (Wahl durch Expertenjury von DJB und Judo Magazin)
› Verleihung des 7. Dans durch den DJB (2008)
› Aufnahme in das Ehrenportal des niedersächsischen Sports (1988)
› Niedersächsische Sportmedaille (1985)
› Silbernes Lorbeerblatt (1984)
Als Judoka und Trainer auf dem Olymp
Verschiedene Wege können im Judo zum Erfolg führen. Der Kampfsportler hat auf der Matte zig unterschiedliche Wurftechniken zur Auswahl, oder er setzt auf Hebel-, Würge- oder Haltegriffe im Kampf am Boden. Oder er spielt seine Ausdauer aus, und bei manchem sorgt pure Kraft für Siege. Beim ersten Judoka in der Hall of Fame des deutschen Sports war es von alldem etwas und doch in besonderer Weise der Kopf, der ihm seine ganz großen Erfolge einbrachte. Andere seien die besseren Judokas gewesen, urteilt Frank Wieneke, technisch flexibler, eleganter. Doch im entscheidenden Moment, und genau das ist ein olympisches Turnier, siegt mentale Stärke. Wieneke hatte sie, der Olympiasieger bezeichnet sich selbst als „Kopfjudoka“. Die Kunst des Fokussierens auf den Moment gab er später als Bundestrainer an die deutschen Topathleten weiter und gewann mit ihnen alle großen Titel.
1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul absolvierte Wieneke zwölf olympische Kämpfe. Elf gewann er. Den bedeutendsten am 7. August 1984, das Finale im Halbmittelgewicht bis damals 78 Kilogramm gegen den britischen Weltmeister und haushohen Favoriten Neil Adams. Natürlich hatte Wieneke eine Strategie im Kopf. Und er wollte unbedingt gewinnen. Ein Jahr vorher hatte er bei den Europameisterschaften gegen Weltstar Adams nach Ablauf der Kampfzeit mit 1:2 Kampfrichterstimmen verloren, Rang fünf belegt. Die knappe Niederlage gab ihm „das Selbstvertrauen, mit der Weltspitze mithalten zu können“. Andere trauen dem 22-Jährigen noch wenig zu. Verbandspräsident Klaus-Jürgen Schulze nutzt Wienekes Kampftag zum Sightseeing. An jenem Tag, hieß es im Umfeld, passiere aus deutscher Sicht am wenigsten. Schulze verpasst so den größten Triumph des westdeutschen Judosports.
Bis heute sagt Frank Wieneke: „Neil Adams war der bessere Judoka, er hätte auch den Sieg verdient gehabt, er hätte nur diesen einen Fehler nicht machen dürfen.“ Der junge Deutsche, gerade dem Juniorenalter entwachsen, lässt sich auch vom Kampfgericht nicht beirren, das vorm Finale seine Judojacke als zu eng geschnitten moniert. Im Aufwärmraum leiht er sich eine viel zu große vom japanischen Kollegen. Mit weißem Tape überklebt er die Flagge mit dem roten Punkt. Der Bundesadler auf der Brust fehlt ihm, aber Wieneke geht mit klarer Strategie in sein erstes großes Finale: die ersten Minuten nur verteidigen, dann die Ausdauer in die Waagschale legen. „Ich wusste, ich darf keine Wertung abgeben. Das hätte mich innerlich fertiggemacht. Mit Rückständen konnte ich nie gut umgehen.“ Der Brite scheucht den Deutschen drei, vier Minuten lang „von einer Ecke in die andere“, verhindert geschickt dessen Griff, probiert es mit allen Techniken. Doch Wieneke fällt nicht. Die Taktik geht auf. Der Rest ist Judolegende: Wieneke springt ruckartig nach vorne, bekommt mit seinem rechten Arm Adams oben an der Schulter zu fassen, setzt auf der rechten Seite zu seiner Spezialtechnik Uchi-mata, dem Schenkelwurf, an, hält dabei aber den Griff mit der linken Hand nicht. Intuitiv dreht er sich nun tief zur linken Seite zu einem Schulterwurf ein. Dafür reicht der feste Griff mit der rechten Hand. Das Timing ist perfekt, Adams fällt – voll auf den Rücken. Der Kampfrichter gibt Ippon für diesen Seoi-nage, voller Punkt. Es ist aus. Der Junge aus Hannover ist Olympiasieger.
Mit dem Kopf entschied der Athlet vom VfL Wolfsburg vier Jahre später auch den „mental besten Kampf meines Lebens“: Im olympischen Halbfinale steht er dem WM-Zweiten Torsten Bréchôt gegenüber. Mehrmals zuvor hatte Wieneke gegen den Ostdeutschen verloren. In Seoul macht er wenige Sekunden vor Kampfende mit einem Beinfasser die entscheidende Wertung. Doch es reicht nicht zum zweiten Olympiagold. „Mit der Finalteilnahme war ich hoch zufrieden – das war ein Fehler, den ich mir bis heute nicht verzeihen kann.“ Wieneke verliert gegen den Polen Waldemar Legien, wie er zuvor gegen Bréchôt und 1984 gewonnen hatte: wenige Sekunden vor Kampfende bei Gleichstand und durch einen tiefen Schulterwurf.
Seine olympischen Erfolge machten Wieneke in den 1980er Jahren zum Aushängeschild des westdeutschen Judos. Er löste den Wolfsburger Klaus Glahn ab, der 1964 bei der olympischen Premiere in Tokio und 1972 in München Medaillen gewonnen hatte. Im Osten hatten derweil Detlef Ultsch, der Doppelweltmeister von 1979 und 1983, und Dietmar Lorenz, Olympiasieger 1980, die größten Erfolge vorzuweisen. Doch noch war die deutsche Judowelt getrennt.
Mit der Starrolle kann der junge Bursche aus dem Arbeiterhaushalt „zunächst nicht umgehen“: Wieneke verliert 1985 häufig, wird den hohen Erwartungen nicht gerecht. Die Kritiker treten auf den Plan. „Einmal Glück gehabt“, heißt es. Getadelt wird, wie er bei Turnieren auftritt – unnahbar. Später kann er das erklären: „Für mein Judo musste ich mich voll und ganz auf mich konzentrieren. Ich konnte kein Quatschen nebenbei ertragen. Das hat vielleicht unhöflich gewirkt, vielleicht auch arrogant.“ Den Druck kann Wieneke oft kaum aushalten. Die Heim-WM 1987 in Essen ist für ihn „ein Alptraum“, im zweiten Kampf fliegt er raus. Am besten habe er gekämpft, „je weiter weg von Deutschland ich war“. Und am liebsten hatte er nur Bundestrainer Heiner Metzler und das medizinische Personal um sich.
Die vorschnellen Urteile widerlegt Wieneke 1986, beweist, dass er kein „One-Hit-Wonder“ ist: Erst gewinnt er im Januar das renommierte Tournoi de Paris. Unter Experten zählt ein Sieg in Frankreichs Hauptstadt so viel wie WM-Titel. Der Applaus des französischen Fachpublikums macht Wieneke stolz. Im Mai steht er bei den Europameisterschaften in Belgrad ganz oben auf dem Podest, bezwingt Legien. Dem Polen, der 1992 in Barcelona sein zweites Olympiagold holt, verdankt Wieneke auch die „schlimmste“ Niederlage – bei seiner letzten WM 1989 in Belgrad. Eine WM-Medaille, die fehlte noch. „Doch ich konnte im Kampf um Bronze nicht mehr den Siegeswillen aufbringen. Ich hatte schon vorher im Kopf verloren.“
Nach einer Schulterverletzung und nur noch mit einer Minimalchance für die Olympiaqualifikation 1992 beendet Frank Wieneke Ende 1991 seine Karriere als Athlet. Sie hat ihn berühmt gemacht. Allseitige Hochachtung erarbeitet er sich in der anschließenden Laufbahn als Trainer. Da waren nach sieben Jahren als Nachwuchs-Bundestrainer zum einen die großartigen Erfolge als Bundestrainer von 2000 bis 2008: der WM-Titel von Florian Wanner 2003, Olympiabronze von Michael Jurack 2004, die EM-Titel von Ole Bischof 2005 und Andreas Tölzer 2006 sowie zum Ende der Trainerlaufbahn der Olympiasieg von Bischof 2008 in Peking. Als Trainer ist Wieneke genauso akribisch wie als Athlet, tritt aber ganz anders auf, als man ihn früher erlebt hat: zugänglich, offen, immer ansprechbar, selbstkritisch, sympathisch. Weit weg von jenem „Vollegoisten“, als den er sich selbst einmal bezeichnet hat. Der Ballast ist weg, der Diplom-Trainer Wieneke kann in neuer Funktion seinen Schutzpanzer ablegen, der Mensch tritt hervor. Seine Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports mag er nicht in erster Linie auf sich beziehen, sondern sieht darin „eine besondere Wertschätzung unserer Sportart, für die ich nur einer von vielen Repräsentanten war und bin“.
Als erster deutscher Judoka erreicht Frank Wieneke als Athlet und als Trainer den größtmöglichen sportlichen Erfolg; das bringt ihm Analogien zu Franz Beckenbauer und Heiner Brand ein. 2008 in Peking, nachdem er in der gleichen Gewichtsklasse wie einst sein Trainer den Olympiasieg errungen hat, hebt Ole Bischof diesen ins ikonische Gedächtnis: Das Bild von Wieneke auf den Schultern des neuen Olympiasiegers geht um die Welt und brennt sich genauso in die Erinnerung der deutschen Judofans ein wie der Finalwurf 24 Jahre vorher. „Diese Geste war das größte Dankeschön, das es geben konnte.“ Ein Dank mit Symbolwert: Wieneke ist oben angekommen. Mehr geht nicht. Er hört als Trainer auf und widmet sich fortan in der Kölner Trainerakademie des DOSB der Ausbildung. Dem Sport und dem Judo bleibt der Träger des siebten Dans ganz eng verbunden, er engagiert sich als Gutachter für die Sporthilfe, in der DOSB-Trainerkommission und in weiteren Ehrenämtern. Dabei folgt er weiterhin seinem Kopf und seinem Weg zum Glück, den er einmal so definiert hat: „Außergewöhnlicher Erfolg setzt außergewöhnliches Training voraus. Erfolg zu haben bedeutet zuerst einmal, aus Niederlagen zu lernen und niemals anderen die Schuld zu geben. Verlierertypen suchen nach Entschuldigungen, Gewinnertypen nach Lösungen in ihrem Leben.“ Frank Wieneke ist ein außergewöhnlicher Judoka und der logische Erste in der Ruhmeshalle des deutschen Sports. Er hat einen weiteren Titel dazugewonnen.
Oliver Kauer-Berk, Juli 2016
Literatur zu Frank Wieneke:
Michael Ehrhart: Vorbild. Deutsche Sportler 1967 bis 2007. Heidelberg 2008
Berndt Barth, Frank Wieneke: Judo – Modernes Nachwuchstraining. Aachen 2013
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Cornelia Hanisch
* 12. Juni 1952 in Frankfurt/Main
Fechten
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Die Florett-Virtuosin
Zu Beginn der 1980er Jahre war Cornelia Hanisch die erfolgreichste und populärste deutsche Fechterin. Die Offenbacher Florett-Spezialistin errang in dieser Zeit Gold und Silber bei Olympia und vier WM-Titel.
Bei Olympischen Spielen war Cornelia Hanisch eine Spätberufene: Nachdem sie 1976 in Montreal mit Platz vier mit der Mannschaft und Rang fünf im Einzel eine Medaille knapp verpasst hatte und 1980 als große Favoritin Opfer des Boykotts geworden war, schlug 1984 ihre Stunde. Mit Silber im Einzel und dem folgenden Gold im Mannschaftsfinale gegen Rumänien zusammen mit Sabine Bischoff, Zita Funkenhauser, Christiane Weber und Ute Wessel, avancierte sie zur erfolgreichsten deutschen Olympionikin in Los Angeles.
Schon viel früher fing Hanisch an WM-Medaillen zu sammeln: 1977 begann sie mit Mannschafts-Silber in Buenos Aires, 1978 folgten bei der Heim-WM im Hamburg Bronze im Einzel und erneut Silber mit der Mannschaft. 1979 holte sie in Melbourne den Einzeltitel – der erste für die deutschen Fechterinnen seit 1961 durch Heidi Schmid. 1981 verteidigte Hanisch ihren Titel in Clermont-Ferrand und gewann erneut Silber mit dem Team. Ein Jahr später in Rom folgte Mannschafts-Bronze. 1985, als sie mit 33 Jahren nur noch „im Notfall“ international einspringen mochte, rutschte sie für die WM ins Team – und kehrte mit zweimal Gold aus Barcelona zurück. Im Einzel gewann sie im ersten rein deutschen WM-Frauenfinale der Fechtgeschichte mit 8:2 gegen Sabine Bischoff. Gesellschaftliche Krönung war die folgende Wahl zur „Sportlerin des Jahres“ durch die deutschen Sportjournalisten.
Cornelia Hanisch war ab 2002 persönliches Mitglied im NOK und engagierte sich bereits ab 1986 20 Jahre lang als Mitglied der Jury für den DOSB-Wettbewerb „Grünes Band für vorbildliche Talentförderung im Verein.“
Größte Erfolge:
› Olympia-Gold Mannschaft 1984
› Olympia-Silber Einzel 1984
› Weltmeisterin Einzel 1979, 1981, 1985
› Weltmeisterin Mannschaft 1985
› WM-Silber Mannschaft 1977, 1978, 1981
› WM-Bronze Einzel 1978
› WM-Bronze Mannschaft 1982
› Europameisterin 1983
› EM-Bronze 1981
› Gesamtweltcupsieg 1982
Auszeichnungen:
› Sportlerin des Jahres 1985
› Silbernes Lorbeerblatt 1980
Die Florett-Virtuosin
Für Cornelia Hanisch war es immer eine „ungeheure körperliche Befriedigung“, wenn sie abends „fein müde“ aus der Sporthalle kam. Wenn ihr Training beendet war und sie „wie ein Bauer auf dem Feld“ ihr Tagewerk vollbracht hatte. „Schwitzen, kämpfen, kaputt sein“, das alles gehörte für die erfolgreiche Fechterin zu einem erfüllten Leben dazu. Trainieren, schlafen, essen – der Dreiklang der Leistungssportler vor einem großen Ereignis bedeutete für sie nicht Einschränkung oder gar Langeweile, sondern Glück, sich fokussieren zu können, ihre Energie zielgerichtet einsetzen zu können. „Ich will die Beste sein“, hieß ihr Mantra, war ihre Motivation, seitdem sie „am Erfolg gerochen“ hatte. Und sie wurde die Beste: Einzel-Weltmeisterin 1979, 1981 und 1985 im Florett-Fechten, dazu Olympiasiegerin mit der Mannschaft 1984.
„Ich hatte immer großen Spaß daran, alles sehr gut zu machen“, sagt die zierliche Frau mit der energischen Ausstrahlung über ihren Ansporn, den sie sich zum Lebensprinzip erhoben hat. Im Leistungssport wie im Leben danach als Lehrerin. „Alles gut machen“ lautet ihr Anspruch, vor allem an sich selbst, aber auch an ihre Schüler. Dass aus dem perfektionistischen Ansatz aber keine Verbissenheit wurde, dafür sorgte ihr Naturell: „Ich bin zu optimistisch, um verbissen zu werden“. Leistungswillen und Lockerheit schließen sich ihrer Meinung nach nicht aus. „Wenn es heute nicht geklappt hat, dann mache ich es morgen.“ Diese Einstellung sei ihr nach Fehlschlägen immer Trost gewesen.
Sie wurde am 12. Juni 1952 in Frankfurt am Main geboren, gilt aber als Offenbacherin. Cornelia Hanisch trainierte im Fechtclub Offenbach (FCO) und feierte für den FCO ihre Erfolge. Seit 30 Jahren arbeitet sie als Berufsschullehrerin an der Käthe-Kollwitz-Schule (KKS), ebenfalls in Offenbach. „Meine erste Schule wird auch meine letzte sein“, sagt die 63-Jährige, die Deutsch, Mathe und Politik unterrichtet, dazu Computerlehre. „Sportlehrerin stand nicht zur Debatte“, sagt Hanisch, obwohl sie neben ihrer Fechtkarriere auch Sport studiert hatte. Doch bei ihrem Einstieg ins Berufsleben fehlte an der KKS noch eine Sporthalle. Außerdem war die Fechtmeisterin auch gar nicht so scharf drauf, Sport zu unterrichten: „Wenn man zwei Mal am Tag Leistungssport gemacht hat…“, sagt sie und lässt den Satz unvollendet.
Stattdessen macht sie ihre Schüler fit fürs Berufsleben. Die jungen Leute, deren Wurzeln in aller Herren Länder liegen, aber in Offenbach gelandet sind, absolvieren dort ein Berufsvorbereitungsjahr. Sie versuchen, den Hauptschulabschluss nachzuholen. Viele gelten als „schwierig“, wobei es meistens eher die Verhältnisse sind, aus denen sie stammen. Cornelia Hanisch lässt sich von solchen Kategorisierungen sowieso nicht abschrecken. „Nichts kann frustrierend sein, was mit Menschen zu tun hat“, sagt sie. Ihren Beruf bezeichnet sie als „genial“. Sie liebt die Herausforderung, will sich auch selbst „ständig verbessern“ bei der Art, wie sie ihren Stoff darbietet. In den meisten Fällen schafft sie es, die jungen Leute auf den richtigen Weg zu führen – und freut sich, wenn sie dem ein oder anderen in neuen Lebenssituationen wieder begegnet.
Eigene Kinder hat sie nicht. Es war ein Verzicht, als Verlust sehe sie es nicht, erklärte sie einmal in der FAZ. Als Lehrerin hat sie ständig mit Jugendlichen zu tun. „Was brauchen Sie Kinder, Sie haben doch uns“, bekomme sie immer mal wieder von den Schülern zu hören, sagte sie in dem Interview. Ihre Lebensgeschichte als Sportlegende spielt im Schulalltag praktisch keine Rolle. Die wenigsten Schüler wissen von ihren früheren Heldentaten, und wenn sie doch einmal darauf angesprochen wird, lenkt sie vom Thema ab. Cornelia Hanisch ist stolz auf ihre Erfolge, doch damit hausieren gehen oder sich gar darauf ausruhen – das entspricht nicht ihrer Art.
Für ihren Lorbeer hat sie hart gearbeitet, in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Etwa 2000 Trainerstunden musste sie investieren, bis sie zum ersten Mal Weltmeisterin wurde, rechnete sie aus. „Ohne die Sporthilfe hätte ich meinen Sport so nicht machen können“, sagt sie. Nur dank der Unterstützung konnte sie in den entscheidenden Phasen „eingleisig“ fahren – nur das machen, was sie wollte. Ohne Rücksicht auf Nebenbeschäftigungen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Konzentration auf das Wesentliche. Dafür ist sie der Sporthilfe bis heute dankbar, ebenso wie ihrem Trainer Horst Christian Tell, der sie an die Weltspitze führte.
Tell hatte im Gegensatz zu anderen Trainern der damaligen Zeit die Umstellung aufs moderne Fechten geschafft. Anfang der 70er Jahre war er nach Offenbach gekommen. Für Cornelia Hanisch, die damals schon 20 war, wurde Tell zum entscheidenden Mann: er formte die „Spätstarterin“ zu einer Spitzenathletin. Eine seiner Spezialitäten war das Erstellen von Gegnerprofilen. Tell konnte die Konkurrentinnen auslesen, wusste um ihre Stärken und Schwächen, und wie man sie treffen konnte.
Im Training übernahm der Trainer als Sparringspartner die Rolle der Gegnerinnen, imitierte deren bevorzugte Aktionen und ließ die Gegenmittel so lange einüben, bis Cornelia Hanisch im echten Gefecht einen Vorteil daraus ziehen konnte. „Dieses psychische Training“, sagt Hanisch heute, habe damals sehr viel Kraft und Energie gekostet. Doch sich so fokussieren und konzentrieren zu können, sei auch ein Schlüssel zum Erfolg gewesen. Fechten ist ein Kampfsport ohne wirklichen Körperkontakt, er wird zu einem wichtigen Teil mit dem Kopf entschieden. Wer sich von den „Spielchen“ seiner Gegnerin ablenken lässt, hat schon so gut wie verloren. Wer aber deren Stärken durch Antizipation entkräften kann, vergrößert zugleich die eigenen Gewinnchancen. Und Cornelia Hanisch war eine Meisterin darin.
Der größte Sieg blieb ihr trotzdem nicht vergönnt, die durchaus mögliche Olympische Goldmedaille von 1980 wurde auf dem Altar der Sportpolitik geopfert. Der Olympiaboykott der Spiele von Moskau durch die Amerikaner und ihrer westlichen Verbündeten wegen des russischen Einmarschs in Afghanistan schnitt brutal in ihre erfolgreichste Phase ein: 1979 war sie Weltmeisterin, 1981 wurde sie es wieder. Aber 1980 durfte sie nicht Olympiasiegerin werden. Erst das Mannschaftsgold vier Jahre später entschädigte halbwegs für den Verlust.
Unabhängig von den eigenen sportlichen Chancen hatte die stets streitbare und politisch denkende Athletin, die sich auch in der Friedenbewegung engagierte, den Boykott nicht als das angemessene Mittel gesehen, um den Afghanistan-Konflikt lösen zu können. Wenn man etwas ändern wolle, müsse man miteinander reden, meinte sie damals wie heute. „Sport ist Begegnung“, sagt sie. Und wer die Chance habe, sich zu treffen, der solle diese Möglichkeit auch nutzen. Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, so ihre Erkenntnis, die sie auch im Schulalltag bestätigt sieht, lassen sich nur durch Gespräche lösen. Neben der grundsätzlichen Frage, ob der Sport ein Vehikel der Politik sein dürfe, stieß ihr bei der Moskau-Frage besonders bitter auf, dass die Entscheidung von oben herab gefallen war. Keiner der Sportler sei tatsächlich gefragt worden. Und diese Rolle als Bauernopfer missfiel ihr gewaltig.
Auch die aktuelle Misere im deutschen Fechtsport beobachtet Cornelia Hanisch mit einer gewissen Sorge, dabei ist sie allerdings weit davon entfernt, ihre „Nachfolger“ für das vermeintliche Versagen zu kritisieren. Vielmehr stellt sie die Systemfrage, und die gleich auf mehreren Ebenen: International sieht sie sowohl Wettkampfmodus als auch Qualifikationssystem als fragwürdig an. National würde sie stärkere Trainingsgruppen einrichten. „Fechter brauchen Gegner“, sagt sie und erinnert daran, dass auch sie ohne ihre Trainingspartnerinnen nicht so großen Erfolg gehabt hätte. Das Beispiel der Dormagener Säbelfechter, die alle am gleichen Standort trainieren und gemeinsam in die Weltspitze vorstießen, sieht sie als stilbildend für die Zukunft des deutschen Fechtsports an. Dagegen hemme die Kleinstaaterei an vielen Standorten die Möglichkeit der Einzelkämpfer in ihrer fechterischen Entfaltung.
Beim Internationalen Fechtverband (FIE) bekommt sie dagegen den Eindruck, dass ihm beim Anspruch, sich als Weltsportart auszubreiten, das Maß verloren ging. Dass deutsche Sportlerinnen, die zu den besten 20 der Welt gehören, sich nicht für Olympia qualifizieren, weil ein weltweites Teilnehmerfeld mit zum Teil nicht konkurrenzfähigen Fechtern aufgeboten werden soll, bezeichnet sie als unfair. Dass Mannschaftswertungen die Qualifikation zu den Einzel-Wettbewerben dominieren, erscheint ihr unlogisch.
Auch haben sich die Anforderungen geändert: Im Gegensatz zu ihrer Zeit, als die Turniere in Paris oder Como stattfanden und eine Wettkampftour nur ein verlängertes Wochenende in Anspruch nahm, werden die Athleten heute rund um den Globus gejagt, um auf allen Kontinenten zu fechten – dort aber zumeist vor leeren Rängen. Gleichzeitig haben die Wettkämpfe ihren Charakter geändert – während früher zwei bis drei Runden mit 20 bis 30 Gefechten anstanden, wodurch auch Kondition zu einem limitierenden Faktor wurde, stehen heute K.o.-Duelle an. Wodurch Weltreisen zu Wettkampfzwecken noch absurder erscheinen, wenn das Aus nach dem ersten Gefecht droht.
Cornelia Hanisch selbst hat mit dem Fechten nach dem Ende ihrer Spitzen-Karriere komplett aufgehört. Als Hobbykämpferin steht sie nicht zur Verfügung, das verbietet ihr Ehrgeiz. „Wenn man mal so gut war, dann ärgert man sich ja nur noch“, meint sie. Stattdessen hat sie Tennis gelernt und sich dabei ausgepowert, ebenfalls in einer Duell-Sportart, bei der die Psyche eine entscheidende Rolle spielt. Immerhin „von null bis Regionalliga“ führte sie ihr zweiter Sportbildungsweg. Wegen Kniebeschwerden musste sie leider aufhören, heute spielt sie nur noch Golf. Dabei freut sie sich vor allem an der Bewegung und hat festgestellt, dass ihre Lust auf Wettkampf nicht mehr ganz so ausgeprägt ist wie früher. Freilich hat sie immer noch Spaß daran, ihren Ehemann im Lochspiel zu schlagen.
Achim Dreis, Juli 2016
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Dr. Harald Schmid
* 29. September 1957 in Hanau
Leichtathletik
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Das Hürden-Ass
Obwohl nie Olympiasieger oder Weltmeister, galt Harald Schmid als der westdeutsche Muster-Sportler. Unvergessen sind die Duelle über 400 Meter Hürden mit dem übermächtigen US-Amerikaner Edwin Moses. In Europa allerdings war Schmid über ein Jahrzehnt hinweg die Nummer eins und dreimal Europameister über seine Spezialstrecke.
Schmids Stern ging 1976 auf, als der Athlet vom TV Gelnhausen den Junioren-Weltrekord über 400 Meter Hürden verbesserte und in Montreal mit der 4x400-Meter-Staffel zu Olympia-Bronze lief. In Prag folgte 1978 der erste EM-Titel über seine Spezialstrecke, zudem gehörte er zur Goldmannschaft über 4x400 Meter flach. 1979 folgte Gold über 400 Meter flach bei den Studenten-Weltmeisterschaften in Mexiko-Stadt. Vor den Olympischen Spielen 1980 lief Schmid Weltjahresbestzeit über diese Strecke, konnte aber wegen des Boykotts in Moskau nicht mit um die Medaillen laufen. 1982 verteidigte er in Athen seine EM-Titel im Einzel und mit der Staffel und lief dabei über 400 Meter Hürden in 47,48 Sekunden Europarekord.
Harald Schmid war auf dem Zenit angekommen, konnte auf Weltebene aber nicht an Edwin Moses vorbeiziehen, selbst wenn es oft knapp war: 1983 bei WM-Silber in Helsinki genauso wie 1984 bei Olympia-Bronze in Los Angeles oder beim legendären WM-Rennen 1987 in Rom. Damals zollte Moses seinem Anfangstempo auf der Zielgeraden Tribut, Landsmann Danny Harris und Schmid kamen näher. Nur hauchdünn lag Moses mit 47,46 Sekunden im Ziel vor Harris und Schmid, die mit 47,48 Sekunden die gleiche Zeit erreichten. Auch ohne WM-Gold wählten die westdeutschen Sportjournalisten Schmid Ende des Jahres zum zweiten Mal nach 1979 zum Sportler des Jahres. Ein weiterer Karrierehöhepunkt war zuvor die Heim-EM 1986 in Stuttgart gewesen: dritter EM-Titel in Folge über 400 Meter Hürden sowie Silber mit der 4x400-Meter-Staffel.
Nach seiner Karriere engagierte sich der promovierte Sportwissenschaftler als Präsidiumsmitglied der Deutschen Olympischen Gesellschaft (1989 bis 1991), als Berater des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (1992 bis 1994) und in der Athletenkommission des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (1991 bis 1999). Seit 1994 ist Schmid für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Kampagne „Kinder stark machen“ tätig und schult Multiplikatoren zur „Suchtvorbeugung im Sportverein“.
Größte Erfolge:
› Zweimal Olympia-Bronze: 4x400 Meter 1976 und 400 Meter Hürden 1984
› Zweimal WM-Silber: 1983 über 400 Meter Hürden und 4x400 Meter
› Zweimal WM-Bronze: 1987 über 400 Meter Hürden und 4x400 Meter
› Fünfmal Europameister: 400 Meter Hürden 1978, 1982, 1986, 4x400 Meter 1978 und 1982
› EM-Silber 1986 über 4x400 Meter
Auszeichnungen:
› Sportler des Jahres 1979 und 1987
› Bundesverdienstkreuz (1988)
› Silbernes Lorbeerblatt (1976)
› Rudolf-Harbig-Preis des DLV (1987)
› Sportplakette des Landes Hessen (1976)
Das deutsche Hürden-Ass
Zuweilen fragen sich langjährige Wegbegleiter des Leichtathleten Harald Schmid, wie dieser außergewöhnliche Laufsportler und Sportdenker der 1970er- und 1980er-Jahre wohl zurechtgekommen wäre mit dem zunehmend kritisch beurteilten Spitzensport dieser Tage. Und wie wäre der, so fein justiert und gestriegelt er inzwischen daherkommt, umgegangenen mit dem Freigeist aus dem Hessischen, mit dessen ausgeprägter Neigung zu Selbstbestimmung und Unabhängigkeit? Gesichert ist: Schmids Leistungen auf dem Vierhundertmeteroval passen, obwohl versehen mit der Patina eines Vierteljahrhunderts, immer noch wunderbar in die von Rekordapologeten und Medaillenzählern gepflegte Landschaft. Gesichert ist aber auch: Diese Landschaft wäre kaum bevorzugtes Terrain für den Sportler Harald Schmid. „Olympia ist nicht mehr so mein Ding“, hat er vor fünf Jahren mal gesagt und damit wohl einen Vorbehalt beschrieben gegen den folgenreichen Kommerzsport der Jetzt-Zeit, einen Vorbehalt, wie ihn viele Ehemalige gern formulieren.
Es sei jedoch angemerkt, dass Anno 2016 zumindest die deutsche Leichtathletik nicht lang überlegen müsste, ob ein „nicht so rundgeschliffenes Etwas“ (Schmid über Schmid in einem Interview 2008) in ihr verändertes Gefüge passen würde oder nicht. Weiß sie doch um den für sie hohen Profit, den kantig-eigenwillige Athleten wie Schmid ihr jahrzehntelang eingebracht haben. So war denn aus ihrer Sicht schon lange ein Platz reserviert in der Hall of Fame für den Mann aus Gelnhausen. Und zwar in der vorderster Reihe.
Dass er dort eine Sonderrolle besetzt, steht ja außer Frage. Allein schon deshalb, weil er zu den ganz wenigen Athleten gehört - Uwe Seeler und Eberhard Schöler seien erwähnt -, die nie bei Olympia und WM siegten (Schmid erklomm dort immerhin sechsmal das Podest) oder Weltrekordler waren und dennoch in die Ruhmeshalle des deutschen Sports einzogen. In Europa reichte eine Dekade lang niemand an ihn heran, das schon. Drei kontinentale Titel (dazu zwei mit der 400-m-Staffel) und der schier „ewig“ ungebrochene Europarekord über 400 m Hürden zeugen davon. Indes, bei allem Respekt vor der letztlich stattlichen Sammlung solcher Diplome, Äußerlichkeiten vielleicht nur für Schmid – der Kern seines sportlichen Schaffens war anderer Natur und vermutlich ein ganz wesentliches zusätzliches Motiv für die, die davon Kenntnis hatten und Schmid auch deshalb die Pforte zur Hall of Fame aufgeschlossen haben.
Als Schmid nach Ausbildung zum Verwaltungsinspektor und anschließend zum Diplomsport- und Gymnasiallehrer sowie Promotion im Fach Sportwissenschaft (Dissertationsthema: „Die Technik des Weitsprungs in der Antike“) eine Agentur für Sport und Kommunikation auf die Beine gestellt hatte, war ein Schwerpunkt seiner nun selbstständigen Tätigkeit ein Engagement für die Kampagne „Kinder stark machen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In diesem Kontext ist er, der selbst nie ein Vorbild hatte, mal zur Definition des Vorbilds gefragt worden: Es müsse eine „für andere klar erkennbare Person sein, damit die Leute wissen, wer da vor ihnen steht“. Nur über eine solche Person liefe die Erziehung von Kindern und nur ihr gelänge der Transfer dieser Werte: Spaß am Sport, Bekenntnis zur Leistung, Teamgedanke, Umgang in der Gruppe, Fähigkeit Gefühle zu zeigen und Akzeptanz auch der Niederlage.
Das wie eine allgemein gültige Profilanforderung und das Postulat eines Pädagogen Formulierte, ist in Wahrheit ein Schmidsches Selbstporträt mit einer Verbeugung vor dem Sport als finalem Pinselstrich: „Er ist eine kleine Schule fürs Leben“. Lernen, verinnerlichen, lernen, aus jedem vollzogenen Schritt – so ist Harald Schmid ans Ziel gelangt. Assistiert haben ihm zwei Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen: Schmid war als Sportler Teamplayer und Einzelgänger.
Das Lagerfeuer und der Plausch unter Kameraden zur Sonnenwendfeier im alten Gemäuer der Fliehburg in Ronneburg nahe seiner Heimatgemeinde Hasselroth im Main-Kinzig-Kreis, das war seine Welt, nicht die sterile Party mit ihrer unverbindlichen Oberflächlichkeit. Und nicht die Hektik der Großstadt, sondern die Intimität und Gelassenheit seines ländlichen Zuhauses im Südosten Hessens, wo Nachbargemeinden so lautmalerische Namen tragen wie Freigericht und Linsengericht. Nie erlag er den Verlockungen der Großklubs, zeit seiner 14 Jahre währenden Karriere als Spitzensportler ist er dem Provinzverein TV Gelnhausen treu geblieben.
Wohlgefühl vermittelte ihm zudem der verantwortungsvolle Auftritt in der Gemeinschaft einer 400-m-Staffel bei. Mit den Kumpels eines solchen Quartetts, vorwiegend das nationale (zehn internationale Medaillen), das Siegerpodest zu besteigen lösten bei Schmid Emotionen von einer „Qualität“ aus, die sich vermutlich von seinen Gefühlen als Einzelmedaillengewinner unterschieden. Über diesen Teil seiner Gedankenwelt ließ er sich freilich selten aus, der Pragmatiker beließ es gern bei knappen, aber präzisen Antworten, Wortgeklingel gehörte nicht zu seiner Rhetorik. Die organisch gewachsene Freundesgruppe gleichberechtigter Partner verinhaltlichte den Spitzensport Schmids in einem Maß, das ungewöhnlich ist für Leichtathleten. Die Gruppe war eines der wenigen Extras, die Harald Schmid sich leistete.
Ein anderes kontrastierte das gerade Geschilderte. Schmid überließ die Planung seines Trainings nur einem: sich selbst. Er folgte eigenen Vorstellungen, kannte sein Ziel und den Weg dorthin. In Anbetracht dessen, was damit erreicht wurde, ein außergewöhnlicher Vorgang - und heutzutage, da der Spitzenathlet sich bereits als Halbwaise fühlt, wenn er den Coach nur mal fünf Minuten nicht in der Nähe weiß, schier undenkbar. Außeneinflüsse ließ er nicht zu, selbst hochrangige Bundestrainer näherten sich ihm nicht auf der fachlichen Ebene. „Er lehnt jeden Handtuchhalter und Kofferträger ab“, erkannte Coach Uli Jonath damals schnell. Schmid: „Ich lasse mich lieber von eigenen Vorschriften und Ansprüchen herausfordern“. Unterstützende Trainingsbetreuung war nur zwei Personen gestattet: zunächst dem Allroundtrainer des Vereins, Willy Neidhardt, dann Elzbieta („Ella“), seiner Frau, Mutter seiner zwei Kinder und ehemaligen polnischen Weltklassehürdlerin.
Dass ihm die höchsten Weihen Olympias und der Weltmeisterschaft nicht zuteil wurden, hat seiner exponierten Stellung im deutschen Sport und der Leichtathletik nichts anhaben können. Liebhaber seines Sports sehen die 16 Hürdenduelle, die er mit dem zwei Jahre älteren Weltrekordler aus den USA, Edwin Moses, ausfocht, allemal als ein Äquivalent für entgangenes Edelmetall. Die epische Auseinandersetzung zwischen den beiden bei der WM 1987 in Rom, als den Amerikaner und den Deutschen, der dabei seinen eigenen Europarekord egalisierte, nur ein Wimperschlag trennte, ist eine Ikone der langen Hürdenstrecke.
Obwohl schon 1976 als Junior mit Olympiabronze in der Staffel dekoriert und 1978 erstmals Hürden-Europameister, erlangte Schmid höchste Popularitätswerte auch jenseits der Leichtathletik erst 1979 mit einem außergewöhnlich riskanten Kraftakt beim Europacup im brüllend heißen Sommer von Turin: Das lange Hürdenrennen und die flache 400 m-Distanz innerhalb von nur 59 Minuten. Eine Legende! Mehrere eiskalte Duschen nach dem ersten Lauf in Europarekordzeit kühlten seinen hochtemperierten Körper soweit runter, dass er eine Stunde später noch eine Vorstellung der Weltklasse geben konnte. Typisch Schmid: Er tat es im Dienst und zum Vorteil der Nationalmannschaft(sic!). Und handelte sich zu den diversen, gern von den Medien verliehenen Namensprädikaten (Wunderknabe, Naturbursche, Modellathlet, Kraftpaket) noch ein weiteres ein: Stoffwechselwunder.
Jenseits von derlei Aktivitäten erschließt sich das Ausmaß seiner Klasse auch beim Blick auf die lange Wegstrecke, die er als Zugehöriger zur Weltelite zurückgelegt hat und die Bandbreite seines Laufvermögens. Zwölf Jahre in den „Top ten“ über 400 m Hürden; dort sieben Jahre unter der Edelmarke Achtundvierzigsekunden, vergleichbar mit 10,00 über 100 m oder 8,40 m im Weitsprung, dem Reich des Granden Carl Lewis; Frontmann über beide Sprintstrecken, 400 m mit und ohne Hürden sowie 800 m. Einen solchen Allrounder sucht man in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert vergeblich. Hintergrund für den Dauerlauf des stets braun gebrannten Schmid („Sonne heilt“): Seine körperliche Unversehrtheit. Mit einer Ausnahme (nationale Meisterschaft 1976) war er nie ernsthaft verletzt. Die kluge Trainingsdosierung des Autodidakten und sein Wissen um die Belastungsgrenze seines Körpers machte es möglich. Und außerdem: „Welch Überfluss an läuferischer Kraft vereint der Mann aus Gelnhausen in sich“ (Ex-Hürdenweltrekordler Martin Lauer).
Bleibt noch festzuhalten, dass seine olympischen Stationen Montreal, Los Angeles und Seoul waren. Die vierte, Moskau 1980, wurde bekanntlich von der Politik aus dem Fahrplan gestrichen. Notizen über die Vorkommnisse von damals belegen: Unter den an der Nase herumgeführten Sportlern griffen nur wenige die Boykottbefürworter mit so deutlichen Worten an wie der für gewöhnlich eher wortkarge Harald Schmid. „Die von uns eingesetzten Funktionäre haben nicht als Repräsentanten des Sports gehandelt, sondern wie Politiker. Sie haben uns betrogen“. Heute urteilt er über sie schon fast altersmilde, sie seien „per se nicht schlecht, ich habe schon Respekt“. Vergessen hat er die Geschichte von 1980 gleichwohl nicht. Seinem Verhältnis zu den Funktionären „ist der Boykott nicht förderlich gewesen“. Der einzige „zarte Versuch“ (Schmid) des Leichtathletik-Verbands, ihn für den Vorstand zu gewinnen, sei aber nicht deshalb an ihm abgeprallt. Der Freigeist Harald Schmid war, trotz Profil und Kompetenz, eher nicht der Typ fürs gehobene Ehrenamt.
Michael Gernandt, Juli 2016
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Peter-Michael Kolbe
* 2. August 1953 in Hamburg
Rudern
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Das Skuller-Phänomen
Er gilt als einer der besten Skuller in der Geschichte des Rudersports: Peter-Michael Kolbe war fünfmal Weltmeister im Einer. Nur bei Olympischen Spielen fehlte die Krönung, dreimal stand Silber zu Buche. Die Duelle des Hamburgers mit dem Finnen Pertti Karppinen haben Legendenstatus.
Nach dem Einer-Sieg bei den Europameisterschaften der Ruderer 1973 in Moskau gewann Peter-Michael Kolbe 1974 seine erste WM-Medaille: Bronze im Vierer mit Steuermann. Seine Zukunft lag indes im Einer, wo er sich 1975 in Nottingham den ersten von insgesamt fünf WM-Titeln holte. In jenem Jahr wählten ihn Deutschlands Sportjournalisten zum „Sportler des Jahres“. 1976 reiste Kolbe als Favorit zu den Olympischen Spielen nach Montreal, und es sah lange nach einem Start-Ziel-Sieg für ihn aus. Im Finish brach der Deutsche jedoch ein, der große Konkurrent Karppinen zog vorbei. Verantwortlich wurden im Nachhinein Nebenwirkungen einer Vitaminspritze der Ärzte gemacht – die Übersäuerung setzte so schlagartig ein. Es handelte sich um damals nicht verbotene Substanzen, dennoch ging die „Kolbe-Spritze“ in die westdeutsche Doping-Geschichte als Fehlentwicklung ein, was Kolbe selbst öffentlich machte.
1978 holte sich Kolbe in Neuseeland seinen zweiten WM-Titel, ein Jahr später hatte der „ewige Rivale“ Karppinen die Nase vorn. 1980 in Moskau, in Kolbes mutmaßlich stärkster Saison, konnte der Deutsche nur tatenlos zusehen, wie der Finne bei den Boykott-Spielen zum zweiten Mal olympisches Gold gewann. Im Jahr darauf holte sich Kolbe bei der Heim-WM in München den WM-Titel zurück, den er 1983 in Duisburg verteidigte. Bei Olympia 1984 in Los Angeles musste sich Kolbe abermals mit Silber, wieder hinter Karppinen, begnügen. Lag der Finne ebenso 1985 bei der WM vorne, Kolbe wurde Dritter, so war der Deutsche 1986 in Nottingham wieder die Nummer eins. Die Welttitelkämpfe 1987 in Kopenhagen markierten schließlich das Ende des ewigen Duells Kolbe gegen Karppinen. Der Finne erreichte das Finale nicht, der damals 34-jährige Kolbe kam als Zweiter hinter dem elf Jahre jüngeren DDR-Ruderer Thomas Lange ins Ziel. Jener Hallenser beendete 1988 auch Kolbes Traum vom Olympia-Gold. Das Silber von Seoul war allerdings ein versöhnlicher Karriereabschluss. Im Anschluss engagierte sich Kolbe bis 1994 als Sportdirektor im Deutschen Ruderverband.
Größte Erfolge:
› Olympia-Silber Einer 1976, 1984, 1988
› Weltmeister Einer 1975, 1978, 1981, 1983, 1986
› WM-Silber Einer 1979, 1987
› WM-Bronze Einer 1985
› WM-Bronze Vierer mit Steuermann 1974
› Europameister Einer 1973
Auszeichnungen:
› Bundesverdienstkreuz 1988
› Sportler des Jahres 1975
Das Skuller-Phänomen
Peter-Michael Kolbe hatte immer etwas Unnahbares. Das ist oft so bei Einer-Ruderern. Ein Kuscheltyp hat kaum Erfolg in diesem Metier. Man muss unerschütterliche Selbstsicherheit ausstrahlen als Skuller, eine Seelenruhe, die aus der Kraft kommt, und eine unverwundbare psychische Außenhaut an den Tag legen. Ein kleiner Moment der psychischen oder physischen Schwäche, und der Blick des Konkurrenten flackert kurz auf. Ganz kurz nur, dann ist die Beobachtung verinnerlicht, abgeheftet im Dossier fürs nächste Rennen. Auf dieser grausam langen olympischen Strecke von 2000 Meter bleibt den anderen genug Zeit und Gelegenheit, die Schwächen des Rivalen auszutesten. Schreckhaft? Dann muss er gleich in der Startphase eingeschüchtert werden. Zweifel am Durchhaltevermögen? Lass ihn führen, sich verausgaben, und zersäge sein Ego auf den letzten Metern. Hat er ein Trauma? Gib’s ihm noch einmal. Es ist einsam da draußen im Verdrängungskampf, und es gibt nichts, woran einer sich festhalten könnte außer an seiner eigenen Stärke. Darum müssen Einer-Ruderer so sein wie Kolbe. Hinter ihren Stirnen läuft ein ständiges Parallel-Programm, mit dem sie die Schlagkraft der ganzen Welt abschätzen und fremde Einflüsse auf ihren eigenen Weg neutralisieren. Wer stark genug ist, und gleichzeitig die kleinsten Schwächen der anderen für sich nutzen kann – der gewinnt.
Kolbe hat viel gewonnen. Er war einer der stärksten Einer-Ruderer seiner Generation, und gäbe es nicht seinen großen Gegenspieler, den Finnen Pertti Karppinen, könnte man ohne Zögern sagen: Der stärkste. Der 1953 geborene Hamburger wurde fünfmal Weltmeister, 1975, 1978, 1981, 1983 und 1986. Dazu kommen Silbermedaillen bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976 und Los Angeles 1984. Doch diese beiden Silbermedaillen, über die andere Nationen überglücklich gewesen wären, hatten für Kolbe und die deutschen Sport-Anhänger nie den Glanz, der ihnen eigentlich gebührte. Nur Zweiter – das war zu wenig angesichts seines Dominanz-Anspruches und seines selbstsicheren hanseatischen Auftretens, das empfindliche Naturen auch mal als Arroganz interpretierten.
Auch darum waren die Niederlagen so schmerzhaft. „Nach dem Debakel war Peter Michael Kolbe sicher einer der Einsamsten von Montreal, dem gar nichts anderes übrigblieb, als in die sonst so bevorzugte Isolation zu flüchten“, schrieb 1976 der Frankfurter Sportjournalist Herbert Neumann mit mitfühlender Beobachtungsgabe. „Wer so wenig Bindung zur Mannschaft hat, kann auch nicht damit rechnen, nach einem solchen Sturz von ihr aufgefangen zu werden. Vielleicht möchte er das auch gar nicht.“ Sicher nicht. Auch nach seinen Siegen zog Kolbe sich gerne mit seinen engsten Leuten zurück. Er blieb Einzelgänger und bewahrte sich seinen Hang zum eigenen Weg. Im Deutschland jener Epoche – autoritär oder anti-autoritär, je nach Standpunkt - fiel ein Sportler mit dieser Haltung noch aus dem Schema. „Der Rebell“, nannten sie ihn.
Kolbe hat viele glanzvolle, souveräne, imponierende Siege errungen. Aber ausgerechnet das olympische Einer-Finale von Montreal ist im kollektiven Gedächtnis der deutschen Sportgemeinde bis heute hängengeblieben. Eine solch tragische Geschichte, gelebt in knapp siebeneinhalb Minuten, erlebt man eben auch im Sport selten. Nach dem Gewinn des Weltmeistertitels war er als Favorit nach Kanada gekommen, alle, auch er erwarteten die Goldmedaille von ihm, und er fühlte sich glänzend. Nur der Wind könne ihn schlagen, behaupteten auch die Experten am Regattaplatz. Und so verlief zunächst auch das Rennen. Kolbe führte vom Start weg, mit gleichmäßigen, perfekten Schlägen entfernte er sich immer mehr vom Rest des Feldes. Nach 1000 Metern, der Hälfte der Distanz, lag Kolbe bereits mehr als acht Sekunden vor seinem nächsten Verfolger. Nichts schien ihn mehr aufhalten zu können auf seinem Weg zum Gold. Doch dann erlebte er vielleicht sogar zum ersten Mal, wie das ist, wenn ein Konkurrent unaufhaltsam herankommt, so als würden dem anderen die Kräfte zuwachsen, gerade in jenem Moment, in dem die eigenen schwinden. Pertti Karppinen, ein Feuerwehrmann aus Turku, stieß aus der fünften Position immer weiter nach vorne. Kolbe drehte immer wieder seinen Kopf Richtung Steuerbord. Überrascht? Überrumpelt? 80 Meter vor dem Ziel führte er immer noch mit einer halben Bootslänge. Dann war er, der bisher immer in der Lage gewesen war, mit seinen Gegnern zu spielen, mit seinen Kräften am Ende. Er kapitulierte. Oder gab es noch einen anderen Grund für seinen Energieabfall? „Innerhalb von dreißig Sekunden zerbrach die Welt des Peter Michael Kolbe und seiner Freunde, die auf ihn wie auf ein Rennpferd gesetzt hatten“, schrieb Augenzeuge Neumann. Wieder an Land, murmelte er nur noch etwas von einem verkorksten Rennen und fuhr mit der U-Bahn allein zurück ins Olympische Dorf.
Erst regte sich der deutsche Ruderpräsident Claus Hess noch darüber auf, dass Kolbe das Rennen viel zu schnell begonnen, zu früh seine Energie verbraucht und dadurch den Einbruch durch falsche Taktik herbeigeführt habe. Doch schon am Tag nach dem Rennen wurde erstmals von der „Kolbe-Spritze“ berichtet, einer Injektion, die der Ruderer vor seinem Rennen erhalten hatte. Dass die Verabreichung dieses Präparats, das deutschen Athleten in Montreal angeblich 1200 Mal gegeben wurde, ausgerechnet nach ihm benannt wurde, findet der einstige Ruderer bis heute unfair. „Ja, es stört mich. Ich fühle mich falsch platziert. Doping ist das, was auf der Dopingliste steht. Das Präparat war damals aber nicht verboten." Außerdem, das ist Kolbe wichtig, habe er „vorher und nachher nie wieder etwas genommen.“ Auch in der Studie des Bundesinstitut für Sportwissenschaft von 2013, „Doping in Deutschland“, die sich mit den Methoden des Westens befasst, wird ihm nicht vorgeworfen, gedopt gewesen zu sein. „Es hieß, dass das Präparat die Übersäuerung der Muskeln verzögere. Erst viel später erklärte man mir, dass als Nebenwirkung die Übersäuerung dann aber schlagartig einsetzte. Wie bei mir. Ich war kurz vor dem Ziel total fertig", sagte Kolbe 37 Jahre später. Er sei im Endspurt wie gelähmt gewesen, beschrieb er das Phänomen schon damals.
Vier Jahre später, als Kolbe mit 26 Jahren die wahrscheinlich beste Saison seiner Laufbahn hatte, boykottierte die Bundesrepublik Deutschland die Olympischen Spiele in Moskau. Ob er damals die Goldmedaille hätte gewinnen können? Wie viele andere hoffnungsvolle Athleten, deren Karrieren nur eine begrenzte Dauer haben, wurde er damals Opfer eines sinnlosen Schachzugs der Politik. „Der Boykott der Spiele 1980 in Moskau tut mir immer noch weh.“ Und wieder vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen in Los Angeles, bremste ihn der Ruder-Weltverband Fisa, als er eine technische Variante verbot, die Kolbe erhebliche Vorteile gebracht hätte: Das Rollausleger-Boot. Bei einem solchen Boot rollt nicht der Sitz vor und zurück, während die Skulls starr in ihren Auslegern liegen. Stattdessen sitzt der Ruderer starr auf einem Fleck, die Ausleger und das Stemmbrett sind beweglich. Diese Technik verhindert das Stampfen des Bootes, das beim Rollsitz durch die Gewichtsverlagerung provoziert wird und ermöglicht dadurch eine höhere Geschwindigkeit bei gleichem Kraftaufwand. Es zeigte sich, dass Kolbe mit dieser Technik sehr viel besser zurecht kam als Pertti Karppinen – er wurde damit 1981 und 1983 Weltmeister, während sich der Rivale mit seinem Bruder Reinar wenig erfolgreich in den Doppelzweier zurückzog. Doch dann befand der Weltverband, aus Gründen der Chancengleichheit den Rollausleger nicht mehr zuzulassen – für kleinere Länder sei diese Technik zu teuer.
Das Rennen in Los Angeles? Noch so ein Krimi. Im Einer-Finale auf dem Lake Casitas belauerten sich die beiden Taktiker bis 1500 Meter, Kolbe gab die Geschwindigkeit vor – dann wiederholte sich die alte Geschichte. Karppinen, der stille, aber clevere Finne, weckte in dem Rivalen noch einmal das alte Montreal-Feeling und zog vorbei, während dem anderen die Kraft aus den Knochen schwand. Im Ziel hatte Karppinen eine halbe Länge Vorsprung.
Noch bei einer letzten olympischen Regatta sollten sich die beiden Rivalen begegnen – 1988 in Seoul, beide nun 35 Jahre alt, doch zu einem direkten Duell kam es nicht mehr. Karppinen erreichte das Finale nicht – er bekam sein Boot nach einem rätselhaften Schaden nicht mehr flott, musste im Halbfinale in einen Ersatz-Einer steigen, der zu klein für ihn war, und schied aus, bevor es zum Kampf der Cracks kam. Kolbe hingegen erreichte den Endlauf, doch dort wurde er zu einem bitteren Blick auf die eigene Endlichkeit gezwungen: Er konnte mit seinem Nachfolger, dem elf Jahre jüngeren Thomas Lange aus der DDR, nicht mehr mithalten. Und doch: Keiner der anderen Finalisten war zu einem ähnlichen Tempo in der Lage wie die beiden. „Jetzt kommt wohl die neue Generation“, sagte Kolbe. „Ein bisschen früh, wie ich finde.“ Und beendete noch im selben Jahr seine Karriere.
Als Sportdirektor des Deutschen Ruder-Verbandes fiel ihm zwischen 1990 und 1994 die gewaltige Aufgabe zu, die Vereinigung mit dem DDR-Verband zu organisieren – eine Herausforderung besonders für einen so konsequenten Individualisten wie Kolbe. In der norwegischen Heimat seiner damaligen Ehefrau Aina Moberg, einer ehemaligen Sportjournalistin, die einst über ihn berichtete, tankte er immer wieder neue Kraft. Schon 1982 war er nach Norwegen gezogen. Er arbeitete als Exportleiter einer Firma für Klimaanlagen, werkelte in seinem eigenen Stück Wald und ging zur Jagd. Heute lebt er mit seiner zweiten Frau in Lübeck, den Leistungssport genießt er höchstens noch als Zuschauer, in seinem Beruf als Logistik-Fachmann dürfte ihm die Gedanken-Schärfe, die er in seiner Sportkarriere bewies, weiter zugute kommen.
Wenn Kolbe über den Sport nachdenkt, dann natürlich nicht unkritisch. Die Kommerzialisierungstendenzen, die im Rudern noch vergleichsweise bescheiden geblieben sind, sieht er bis heute mit Stirnrunzeln. Mit Karppinen, der von der Feuerwehr zunächst zu einem Busunternehmen wechselte und sich danach in Turku als Sportmasseur selbständig gemacht hat, verbindet ihn nicht mehr viel. Die olympischen Niederlagen verfolgen ihn auch nicht mehr. „Ich habe natürlich oft darüber nachgedacht“, sagte er einmal. „Ich kann es nicht mehr ändern. Ich wollte das Gold, habe es aber nicht geschafft. Dennoch erfüllt es mich mit Stolz, was ich in meiner Laufbahn erreicht habe.“
Evi Simeoni, Juli 2016
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Walter Röhrl
* 7. März 1947 in Regensburg
Motorsport
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Das Genie des Rallye-Sports
Walter Röhrl, der bislang einzige deutsche Weltmeister, ist auch lange nach seinem Karriereende noch der Inbegriff des Rallye-Sports in Deutschland. Das „Genie auf Rädern“ (Niki Lauda) fuhr 1980 und 1982 zum Welttitel, gewann die prestigeträchtige Rallye Monte Carlo viermal auf unterschiedlichen Fabrikaten und insgesamt 14 WM-Läufe. 13 Siege erreichte er mit Kopilot Christian Geistdörfer, einen zuvor mit Jochen Berger.
Seinen ersten Profivertrag erhielt Röhrl 1973 bei Opel. Ein Jahr später gelang ihm mit dem Europameistertitel der internationale Durchbruch. 1975 folgte bei der Akropolis-Rallye der erste Sieg in einem WM-Lauf. 1977 wechselte Röhrl zu Fiat und Christian Geistdörfer wurde Beifahrer. 1980 siegte er auf einem Fiat-Lancia überlegen bei der Rallye Monte Carlo und wurde erstmals Fahrer-Weltmeister. 1982, wieder für Opel, gewann er auf einem Ascona 400 zum zweiten Mal die Rallye Monte Carlo und ging als letzter Weltmeister vor der Allradära in die Rallyegeschichte ein. Auch 1983 setzte sich Röhrl bei der „Monte“ durch, diesmal mit einem Lancia, und wurde Zweiter der Fahrer-WM. Ein Jahr später gelang ihm – auf Audi quattro – der Hattrick bei der Rallye Monte Carlo. Trotz vieler technischer Pannen belegte Röhrl 1985 in der Fahrer-WM Rang drei.
Als Konsequenz schwerer Unfälle mit Toten und Verletzten bei mehreren WM-Läufen zog sich Audi im Mai 1986 aus dem Rallyesport zurück. Röhrl bestritt ab 1988 fast nur noch Rundstreckenrennen, feierte auch dort Erfolge (u.a. zwei Siege in der US-Sportwagen-Meisterschaft Trans-Am) und arbeitete für Audi als Testfahrer und Berater. 1991 und 1992 startete er in der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft. Danach arbeitete Röhrl als Testfahrer und Entwickler für Porsche, unter anderem war er maßgeblich an der Entwicklung des im Jahr 2000 vorgestellten Porsche Carrera GT beteiligt. Auch im Alter „juckt“ es ihn noch: Mit 62 Jahren fuhr Röhrl 2010 beim Saisonauftakt der Deutschen Langstrecken-Meisterschaft in einem fast serienmäßigen Porsche 911 GT3-RS auf Platz drei seiner Klasse.
Größte Erfolge:
› Rallye-Weltmeister 1980 und 1982
› Vierfacher Sieger Rallye Monte Carlo (1980, 1982, 1983, 1984)
› 14 Siege bei Rallye-WM-Läufen
› Rallye-Europameister 1974
Auszeichnungen:
› Bayerischer Sportpreis für das Lebenswerk (2011)
› Aufnahme in die Rallye Hall of Fame des finnischen Motorsportverbands (2011)
› Wahl zum „Rallye-Fahrer des Millenniums“ durch Rallye-Kollegen in Frankreich (2000)
› Wahl zum „Besten Rallyefahrer aller Zeiten“ durch eine Expertenjury in Italien
› ADAC-Motorsportler des Jahres 1980 (gemeinsam mit Kopilot Christian Geistdörfer)
› Großer ONS-Pokal 1974, 1980, 1982 (höchste Ehrung im deutschen Automobilsport)
Das Genie des Rallye-Sports
Andere sind öfter Rallyeweltmeister geworden, doch einen Walter Röhrl, so scheint es, konnten und können sie trotzdem nicht übertreffen. In Italien wurde Röhrl zum „Rallyefahrer des Jahrhunderts“ gewählt. In Frankreich wurde dem Regensburger im Jahr 2000 die Auszeichnung „Rallyefahrer des Millenniums“ verliehen. Und eine Jury aus einhundert internationalen Motorsport-Experten setzte noch eins drauf: „Bester Rallyefahrer aller Zeiten“. Da kann also nichts mehr kommen. Auch Niki Lauda scheut nicht den Griff in die Kiste der Superlative: „Röhrl ist der Größte überhaupt.“ Und das meint der frühere Formel-1-Weltmeister für den gesamten internationalen Motorsport.
Was hat Röhrl – zwischen 1973 und 1987 als Rallyeprofi aktiv und bis heute einziger deutscher Rallyeweltmeister – was andere Motorsportler nicht haben?
Es gibt viele Möglichkeiten, einen Menschen kennenzulernen, eine der wohl besten: Als Beifahrer in einem Rallyeauto. Der Münchener Christian Geistdörfer, der Mann an seiner Seite bei zwei WM-Titeln und dreizehn von insgesamt vierzehn gewonnenen WM-Rennen: „Mehr Vertrauen zu einem anderen Menschen kann es kaum geben, wenn man sich als Beifahrer neben einen Ausnahmekönner setzt, der im Wettbewerb ständig in einer Art Ausnahmezustand ist.“
Der Begriff „blindes Vertrauen“ kann dabei wörtlich genommen werden. Denn der Beifahrer, der mit voller Konzentration aus seinem Bordbuch dem Fahrer die Strecke quasi vorliest, sieht so gut wie nichts von dem, was um ihn herum – im Auto wie auf der Strecke – passiert.
„Genial und besonnen zugleich“ habe Röhrl mit einer traumhaft sicheren Kombination aus lntuition und Improvisation sein artistisches Hand- und Fußwerk im Auto beherrscht. Rallyefahrer steuern ihr Auto im Renntempo über Kuppen, Wellen, Schlaglöcher, durch Senken, Rinnen und Kurven aller Art, über Asphalt, Sand oder Schotter, und – damals noch – auch bei Nacht und Nebel. Volles Beschleunigen und volles Anbremsen im wilden Wechsel. Das Fahrzeug springt, schleudert, driftet als sei der Leibhaftige hinter ihm her.
Zwar können die Fahrer auf den Strecken der Sonderprüfungen Wochen vorher auch mal trainieren, doch es sind viel zu viele Kilometer, viel zu viele Tücken, um sich alles einprägen zu können. Das ist die Stunde des Aufschriebs für den Beifahrer. Er schreit dann später über Bordfunk dem Fahrer ins Ohr, wie die nächste Kurve verläuft, welches Höchsttempo in welchem Gang sie verträgt oder was Fahrer und Fahrzeug hinter der nächsten Kuppe erwartet, über die man wie ein Skispringer jagt – allerdings ohne Blick auf die „Landebahn“.
Bei schlechter Sicht, bei strömendem Regen, starkem Schneefall oder dichtem Nebel wird jeder Meter im Renntempo zur waghalsigen Mutprobe am Steuer. Röhrl über die wegweisende Rolle des Beifahrers: „Wenn der Christian sagt, ich zähl’ bis zehn, dann biegst rechts ab, dann biege ich bei zehn rechts ab, ganz egal ob ich was sehe oder nicht.“
In der Branche legendär sind die unglaublichen Bestzeiten mit bis zu fünf Minuten Vorsprung vor dem Rest der Weltelite des Rallyesports, die Röhrl/Geistdörfer beim WM-Lauf in Portugal 1983 im dichtesten Nebel erzielten. Der Fahrer hatte sich bedingungslos auf das menschliche Radar neben ihm verlassen. Ein einziger Fehler in der Bordkommunikation hätte das schmerzhafte Ende der Dienstfahrt bedeutet. Ganz besonderer Eigenschaften und Fähigkeiten bedarf es also, um solch außergewöhnlichen Anforderungen gerecht zu werden.
In Röhrls Vita findet sich aber zunächst nichts, was Rückschlüsse auf seine einzigartigen Talente am Steuer eines Rallyeautos zuließe. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er zehn Jahre alt war. Er wuchs dann bei seiner Mutter auf. Nach den Vorstellungen seines Vaters hätte er ebenfalls Steinmetz werden sollen. Doch er begann mit sechzehn eine kaufmännische Lehre beim Bischöflichen Ordinariat Regensburg. Nachdem er mit 18 den Führerschein gemacht hatte, wurde er im Außendienst eingesetzt als Fahrer des Rechtsvertreters der bayerischen Bischöfe in den sieben bayerischen Diözesen. Wenn man so will: Der Beginn seiner Laufbahn als Berufsfahrer.
Aber es war noch lange nicht der direkte Weg zum Motorsport. Seine Vorlieben galten zunächst ganz anderen Sportarten wie Skifahren, Tischtennis, Rudern, mit durchaus beachtlichen Erfolgen bei Jugend- und Juniorenmeisterschaften. Zudem legte er die Prüfung zum staatlich geprüften Skilehrer ab und gehörte auch lange Zeit zum Lehrteam des Deutschen Skiverbands.
Neben dem schnellen Sport auf zwei Brettern hatte ihn sein zehn Jahre älterer Bruder Michael aber auch schon für den Sport auf vier Rädern begeistert. Als Walter Röhrl mit 18 dann selbst endlich „offiziell und legal“ Gas geben konnte, verunglückte sein Bruder am Steuer eines Porsche 956 tödlich. Für den jungen gläubigen Katholiken ein besonders schwerer Schicksalsschlag; der Bruder hatte ihn – nicht nur mit seiner Vorliebe für Motorsport – stark geprägt.
Röhrl war 21 Jahre alt, als ein Freund im Skiclub Regensburg, Herbert Maracek, ihn überredete, sein erkennbares Bewegungstalent mal bei einer Rallye in einem Fiat 850 Coupé auszuprobieren. Ohne jedes Training fuhr er gleich in der Spitze mit, machte aber auch die Erfahrung, dass der beste Fahrer nichts zählt, wenn das Fahrzeug nicht mitspielt. Die Lichtmaschine hatte nicht durchgehalten. Ein Jahr später lief es bei der Rallye Bavaria, nun auf einem BMW 2002 TI, noch besser, auch wenn er wegen Auslassens einer Durchgangskontrolle aus der Wertung genommen wurde. Aber danach war er weder durch Lichtmaschinen noch durch Regularien zu bremsen. Auf Rallyefahrzeugen der Marken Alfa Romeo und Porsche sammelte er weitere Erfahrungen ehe er Anfang der Siebzigerjahre Werksfahrer bei Ford wurde. Die spektakuläre Olympia-Rallye 1972 von Kiel nach München, die er bis zu seinem Ausscheiden wegen Motorschadens anführte, führte ihn dann endgültig auf den Olymp des Rallyesports. Als Werksfahrer für Opel folgte 1975 in Griechenland bei der Rallye Akropolis der erste Sieg bei einer WM-Rallye, mit einer Stunde Vorsprung vor dem Zweiten.
Auf seiner dritten Station als Werksfahrer, bei Fiat, gewann er 1978 auf Anhieb zehn Sonderprüfungen bei der Rallye Monte Carlo. 1980 wurde er auf Fiat 131 Abarth erstmals Rallye-Weltmeister. 1982 gewann er auf Opel Ascona zum zweiten Mal den Titel. Weitere Siege bei WM-Rallyes holte das „Genie am Lenkrad“, wie er in den Medien immer wieder genannt wurde, auf Lancia Stratos und – als Vierzigjähriger – auf Audi Quattro. Auch bei Rundstrecken- und Bergrennen konnte er mit den schnellsten Fahrern mithalten. Und als passionierter Rennradfahrer und Golfspieler bewies und beweist Walter Röhrl ebenfalls seine große sportliche Vielseitigkeit – ein stets ehrgeiziger Mehrkämpfer mit Hang zum Perfektionismus bei jedem Wettbewerb.
Rolf Heggen, Juli 2016
Literatur zu Walter Röhrl:
Reinhard Klein, Wilfried Müller, Thomas Senn: Walter Röhrl. Rückspiegel. Meine Laufbahn in Bildern. Reinhard Klein, Köln 2007
Ferdi Kräling, Wilfried Müller: Walter Röhrl. Die Sucht nach Perfektion. Erinnerungen eines Weltmeisters. Sportverlag, Berlin 1993
Walter Röhrl, Wilfried Müller, Reinhard Klein: Aufschrieb Evo 2. McKlein Publishing, Köln 2012
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Bernhard Langer
* 27. August 1957 in Anhausen
Golf
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Deutschlands Golf-Legende
Bernhard Langer und seine Erfolge machten den Golfsport in Deutschland in den 1980er und anfangs der 1990er Jahre populär. Seine Siege beim US Masters 1985 und 1993 sowie insgesamt sechs Gewinne des Ryder-Cups, zuletzt 2004 als Kapitän der Europaauswahl, verschafften dem Sport hierzulande größere Beachtung und Langer internationale Anerkennung.
Sein erstes Turnier auf der PGA European Tour gewann Langer 1980 mit dem Dunlop Masters. 1981 beendete er neun Turniere in den Top 3, feierte den ersten von insgesamt fünf Siegen bei den German Open und stand am Jahresende in der Preisgeldrangliste der European Tour auf Platz eins. In den USA gelang ihm 1985 der Durchbruch. Im Golfmekka von Augusta triumphierte Langer beim Masters. Das grüne Sieger-Jackett garantiert ihm für alle Zeiten die Teilnahme am prestigeträchtigsten Turnier der Welt. Zweites Saison-Highlight war im selben Jahr der erste Sieg im Ryder Cup, dem Mannschaftsvergleich der besten Golfer Europas und der Vereinigten Staaten. In der ersten offiziellen Weltrangliste nahm der damals 28-Jährige Deutsche zu Jahresbeginn 1986 die Spitzenposition ein. 1993 siegte Langer erneut beim Masters in Augusta. Neben den weiteren Ryder-Cup-Siegen 1987, 1995, 1997 und 2002 als Spieler war für Langer der Sieg als Kapitän der Europaauswahl 2004 ein weiterer Meilenstein. Im Jahr 2007, mit Erreichen seines 50. Lebensjahres, qualifizierte sich Langer für die PGA Tour Champions, die US-Seniorentour. Bis heute spielt er dort überaus erfolgreich, gewann mehrere Senior Majors sowie in jedem Jahr die Jahres-Gesamtwertung mit Ausnahme des Jahres 2011, als er mehrere Monate verletzungsbedingt ausfiel. Für Staunen sorgt Langer immer wieder beim Masters in Augusta – wo er auch im April dieses Jahres wieder berechtigte Siegchancen hatte. Vor wenigen Wochen erzielte er zudem seinen 100. internationalen Turniersieg – eine einzigartige Leistung.
Langer zählt auch aufgrund seiner geschäftlichen Aktivitäten zu den Top-Persönlichkeiten der internationalen Golfszene. Zusammen mit Bruder Erwin betreibt er mehrere Firmen, organisiert vor allem Turniere und designt Golfplätze. Die 1990 ursprünglich für das German Masters gegründete Langer Sport Marketing GmbH hat sich durch die Ausrichtung von Golfevents einen sehr guten Ruf erworben. Besonders intensiv engagiert sich Langer im Platz-Design. Einige der seit 1986 unter seinem Namen entstandenen Kurse waren bereits Schauplatz internationaler Professional-Turniere. Der bekennende Christ engagiert sich ebenso sozial: Die 2003 gegründete Bernhard-Langer-Stiftung hilft Menschen, die aufgrund ihrer Situation einer finanziellen Unterstützung bedürfen.
Größte Erfolge:
› Zwei Siege beim US Masters 1985, 1993
› Sechs Ryder-Cup-Siege: 1985, 1987, 1995, 1997, 2002 (Spieler), 2004 (Kapitän)
› 42 Siege auf PGA European Tour
› Gesamtsieger der PGA Tour Champions (Senioren) in den Jahren 2008 bis 2010 und 2012 bis 2015
› Sieben Major-Siege auf der Seniors-Tour, zuletzt als erster Spieler überhaupt das „Titel-Triple“ 2014, 2015 und 2016 bei den Senior Players Championship
Auszeichnungen:
› Bundesverdienstkreuz
› Silbernes Lorbeerblatt
› Bayerischer Verdienstorden
› Honorary Officer of the Most Excellent Order of the British Empire (OBE)
› European Tour Golfer des Jahres (1985, 1993)
› Medienpreis Goldener Kompass des Christlichen Medienverbunds KEP 1999 und 2002.
› Aufnahme in die World Golf Hall of Fame (2002)
› PGA Professional der Jahre 2001 und 2005
› Champions-Tour Player of the Year (2008, 2009, 2010, 2014, 2015)
Deutschlands Golf-Legende
Damals, am 15. April 1985, war dieser Mann in Deutschland kaum bekannt: Bernhard Langer, der 27jährige aus Anhausen bei Augsburg, hatte das US Masters im Augusta National Golf Club in den USA gewonnen. Der Schwabe mit den blonden Locken und dem knallroten Outfit wirkte selbstbewusst, als er sich das Grüne Jackett für den Sieger über die Schultern streifen ließ. Ein Deutscher als Champion eines der vier Major-Turniere - das hatte es noch nie gegeben. Langer selbst allerdings schien kein bisschen überrascht von seinem Sieg. Die Karriere des jungen Augsburgers hatte ihren ersten Höhepunkt erreicht, und die besondere Beziehung zwischen Langer und dem Augusta National Golf Club, dem wohl exklusivsten Golfclub der Welt, nahm ihren Anfang. Deutschland schließlich, damals Golf-Entwicklungsland, entdeckte mit Hilfe dieses Mannes den Golfsport für sich.
Wer die Geschichte des Bernhard Langer erzählt, rekapituliert in gewisser Weise auch einen wesentlichen Teil der deutschen Golf-Geschichte. Untrennbar sind die beiden miteinander verbunden. Langer, inzwischen 58 Jahre alt, hat die Golfszene hierzulande geprägt wie kein anderer. Die Serie seiner Siege ist schier endlos: 100 Titel weltweit hat er geholt, erst im Mai gewann er seinen sechsten Majortitel bei den Senioren. Er ist zehnfacher Ryder Cup-Spieler, führte Europas Team 2004 als Kapitän des europäischen Teams im Kontinentalkampf gegen die USA an. Was sein Image aber am meisten geprägt hat, sind seine zwei Siege bei den US Masters 1985 und 1993 in Augusta. „Egal wo ich hinkomme, heißt es immer „zweifacher Masterssieger,“ meinte er 2015. „Ich habe in meiner Karriere bisher 95 Turniere gewonnen, aber es werden oft nur die zwei Masters-Siege genannt.“
Als er 1982 zum ersten Mal nach Augusta fuhr, überwältigte ihn dieses Turnier in den Südstaaten der USA. „Mir war nicht klar, wie besonders der Golfplatz ist und was die US Masters ausmacht mit ihren strengen Regeln. Vor den Schwierigkeiten der Grüns schließlich musste er kapitulieren: „Ich habe den Cut verpasst mit elf Schlägen hinter dem Ersten nach 36 Löchern. Ich hatte elf Dreiputts auf 36 Löchern gemacht – der helle Wahnsinn. Das war einfach die Ungewohntheit auf solchen Grüns mit solchen Fahnenpositionen zu spielen.“
Die USA, die ihm auch dank seiner amerikanischen Frau Vikki inzwischen längst zur Heimat geworden ist, waren damals noch weit weg für den jungen Mann, der so zufällig zum Golfsport gefunden hatte und ihn zu seiner Leidenschaft machte. Nein, der Junge Bernhard, hatte mit dem Golfsport eigentlich nichts gemein. Der Vater war Maurer, die Mutter verdiente als Bedienung dazu. Geld war eher knapp im Hause Langer, weshalb der größere Bruder Erwin sich irgendwann als Caddie im Golfclub Augsburg-Burgwalden verdingte. „Ich war damals neun und ziemlich überrascht, als er mit ein paar Mark nach Hause kam“, erinnert sich Langer heute. Er bewarb sich für den gleichen Job und verliebte sich in das Spiel. Ein Holz, zwei Eisen und einen Putter mussten sich die Geschwister anfangs teilen, Doch während es Erwin auf die weiterführende Schule trieb, entschied sich Bernhard für die Regelschule, um nachmittags die Bälle über Platz und Range klopfen zu können. Mit 15 Jahren begann er eine Lehre zum Golflehrer an, mit 18 Jahren fing er an in einem klapprigen Auto durch Europa zu reisen. 1980 gewann er mit den Dunlop Masters seinen ersten Titel. In Deutschland, wo es zu diesem Zeitpunkt gerade einmal knapp 50.000 Golfer gab, wurde er damit nicht wirklich bekannt. Überhaupt hatte der Job eines Golfprofis in etwa die Wertigkeit wie der eines Boxers. Wer aus vernünftigem Hause kam, wurde Anwalt oder Arzt, Golfprofi sicher nicht.
Für den Methodiker Langer aber war dieser Beruf perfekt. Er kommt ihm mit seinen hohen Anforderungen an Disziplin, Methodik, stretegisches Denken und Geduld entgegen. Man könnte auch sagen: Langer ist perfekt auf diesen Sport zugeschnitten. Über außergewöhnliches Balltalent redet niemand, wenn er über die Leistungen Langes spricht. Der Deutsche ist kein Ballkünstler wie es sein gleichaltriger Kollege Severiano Ballesteros aus Spanien gewesen ist, kein großgewachsener Athlet wie der Australier Greg Norman, mit dem er Jahre um die Titel stritt. Langer lernte das Spiel nicht wie Tiger Woods von klein auf von der Pique auf, spielte nicht mit zig anderen Kindern tagein tagaus auf erstklassigen Golfplätzen wie der inzwischen ebenfalls 58jährige Nick Faldo. Nein, Bernhard Langer ist der Typ, der sich diesen Sport erarbeitet hat, der seinen Schwung zig mal in all‘ seine Einzelteile zerlegte, um ihn dann wieder auf sich selbst und seinen Körper maßzuschneidern.
Entstanden ist ein Spieler, der all‘ diesen berühmten Kollegen, über die wir gerade gesprochen haben, vor allem in einem überlegen ist: Er spielt noch immer, seit 40 Jahren schon. Ein Großteil jener, die seine Karriere begleitet haben, ist längst in den Ruhestand getreten, gestorben oder auf die Position eines TV-Kommentators gewechselt. Selten finden sich Profis, die sich über Jahrzehnte hinweg für ihren Job begeistern können. „Ich liebe Golf. Ich liebe den Wettbewerb,“ sagt Langer dazu. „Ich bin zum Glück gesund, habe eine ordentliche Technik und einen soliden Kopf.“
Das Resultat dieser Kombination ist für die Fans erstaunlich und für die Konkurrenz ernüchternd. Je älter der Mann, desto besser wird er, könnte man meinen. „Vintage Langer“ wäre wohl der passende Begriff für dieses Phänomen. Natürlich war der Deutsche auch mit 30, 35 und 40 Jahren erstklassig, gehörte stets zu den Top 50 der Welt, führte 1986 die Weltrangliste an. Die Dominanz aber, wie er sie mit seinem Wechsel auf die Seniorentour erreicht hat, ist durchaus mit der Übermacht eines Tiger Woods in seinen besten Phasen während der Jahre 2000 und 2001 vergleichbar. „Er ist so fit wie eh und je“, resümierte der Amerikaner Olin Browne im Mai, nachdem er Platz zwei beim Major-Turnier Regions Tradition hinter Langer belegt hatte. „Er ist ein Kerl, der das Thema Platzstrategie beherrscht wie kein anderer. Er weigert sich auch nur ein paar Zentimeter vor dem Gegner zurückzuweichen. Er misst den Platz besser aus als jeder andere. Er spielt seine Stärken aus, und er ist hartnäckig.“
Bei den British Seniors Open 2014 deklassierte er am Ende das Feld mit 13 Schlägen, es war der zweitgrößte Vorsprung nach Tiger Woods im Jahr 2000 bei den US Open (15 Schläge), mit dem jemals ein Turnier gewonnen wurde. „Es fühlte sich an, als habe ein Nicht-Senior bei den Senioren mitgespielt“, schrieb der Korrespondent des US-Senders CBS, der im schottischen Turnberry den Siegeszug des Deutschen verfolgte. Kein Wunder, dass Langer den Charles Schwab Cup, die Geldrangliste der Senioren, in den vergangenen zwei Jahren jeweils gewonnen hat. Und wer glaubt, mit über 50 Jahren seien die Einnahmequellen im Golfsport eher versiegt, stellt überrascht fest, dass Deutschlands Vorzeigegolfer seinen jungen Nachfolger Martin Kaymer mit einem Gesamtverdienst von mehr als neun Millionen Dollar aus Werbeeinnahmen und Preisgeldern problemlos um rund drei Millionen übertrumpfte.
Für den einen oder anderen Mitdreißiger ist es dabei schwer zu verstehen, dass ein 58jähriger selbst in der regulären Altersklasse noch mithalten kann. Bei den US Masters allerdings, wo er jede Spielbahn perfekt verinnerlicht hat, beweist der Mann Jahr für Jahr, dass er noch wettbewerbsfähig ist. 2014 belegte Langer Rang acht, 2016 hatte er bis zum Finalsonntag Chancen auf den Sieg, bevor er am Ende Platz 24 belegte. Die dritte Runde des Turniers absolvierte er mit dem Australier Jason Day, einem jugendlichen Kraftpaket, der den Ball vom Abschlag weg locker 30 Meter an Langer vorbeidrischt. Ein Manko, das Langer durch die Vermeidung strategischer Fehler und ein sensationelles kurzes Spiel rund ums Grün kompensiert. „Dass ein 58jähriger fähig ist, bei uns spielerisch mitzuhalten und dabei nach 40 Jahren immer noch die gleiche Motivation hat, ist ziemlich beeindruckend“, lautete Days Resümée.
Teil des Erfolgskonzeptes ist Langers Fitness- und Ernährungsprogramm: Schlank und muskulös ist der Deutsche seit langem. Zu Zeiten, als Golfprofis nach der Turnierrunde eher an der Bar als im Fitnessraum des Hotels bei einem Turnier verschwanden, war Langer ein Pionier, der sich stundenlang mit Dehnübungen und Hanteln quälte, um sich anschließend ein wenig Rohkost zu gönnen. Ernährungsfragen, die richtigen Vitamine und Mineralstoffe beschäftigen ihn seit Jahrzehnten – wer wie er eine Karriere über Jahrzehnte hinweg verfolgt, überlässt nichts dem Zufall.
Letztendlich ist es auch dieser strategische Ansatz gewesen, der ihm über die Yips-Krisen hinweg geholfen hat. Dieses unkontrollierbare Zucken der kleinen Handmuskeln wird vom Gehirn gesteuert, macht jeden Putt selbst aus kurzen Distanzen unberechenbar und jede Runde zum Vabanque-Spiel. Langer kämpfte mehrfach damit, Resignation aber ist nicht Teil seines Konzeptes. Er testete Putter und Griffe, entwickelte beim ersten Mal den sogenannten Krallengriff, der die Hände stabilisierte und entschied sich später für die Verwendung des langen Besenstil-Putters, dessen Technik er 2016 erneut modifizierte, als die Verankerung des Schlägers am Brustkorb für verboten erklärt wurde.
Der eigene Umgang mit solchen Problemen macht demütig und schafft Verständnis für die Probleme anderer. Vielleicht auch deshalb hat Bernhard Langer auch in jenen Rollen brilliert, in denen es nicht um das eigene Golfspiel ging. Als er im Jahr 2004 Europas Ryder Cup Kapitän im amerikanischen Detroit anführte, gelang der Mannschaft ein Sieg von 18,5 u 9,5. Es war der höchste Sieg, den Europa bis dato erzielt hatte. Akribisch geplant wurde die Veranstaltung für Langer auch deshalb ein Erfolg, weil keiner seiner zwölf Spieler nur einmal seine Autorität in Frage stellte. Ruhig und bestimmt kann der Deutsche bei solchen Gelegenheiten sein, freundlich aber durchaus streng. Seine jahrzehntelange Expertise blitzt permanent auf, lässt Kritiker verstummen.
Deutschland hat auch als Turnierstandort von seinem Erfahrungsschatz profitiert. Als Langer beschloss, seine Begeisterung für das US Masters in ein eigenes deutsches Turnier einzubringen, entstand die German Masters, erstmals ausgetragen 1987 im Stuttgarter GC Solitude. Später wechselten der Sponsorenname, auch der Modus und der Veranstaltungsort. Aber Bernhard Langer der Turnierveranstalter war der Erste, der amerikanische Superstars für einen Auftritt hierzulande gewinnen konnte. Weltstars wie Fred Couples oder John Daly traten an. Eine Sensation zu Zeiten, als man noch nicht tagtäglich im Bezahl-Fernsehen jede Turnierrunde verfolgen konnte. Ein paar Mal schlüpfte Langer dabei nicht nur in die Rolle des Gastgebers, sondern auch in jene des Champions. Vier seiner Turniere hat er selbst gewonnen. Auch das ist weltweit einmalig. Aber typisch Langer.
Petra Himmel, Juli 2016
Literatur zu Bernhard Langer:
Biografie: Stuart Weir/Bernhard Langer: Meine Lebensgeschichte. Höhen und Tiefen meines Lebens, Hänssler Verlag, Holzgerlingen 2002. ISBN 3-7751-3921-4.
Bill Elliott/Bernhard Langer. Dt. von D.A. Freiherr von Thüna „Das ist mein Leben: eine Autobiografie“
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Hartwig Gauder
* 10. November 1954 in Vaihingen
Leichtathletik
Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports: 2016
Der Mann mit den drei Herzen
In seiner Karriere gewann der Geher aus Erfurt über die 50-Kilometer-Distanz alles: Olympisches Gold, Weltmeisterschaft, Europameisterschaft. Seinen größten Kampf gewann er indes nach der Sportkarriere – Gauder lebt seit 1997 mit einem Spenderherz.
In den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre zählte Hartwig Gauder zu den weltbesten Gehern über die 50-Kilometer-Distanz. Seine größten Erfolge waren die Titelgewinne bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau, bei den Weltmeisterschaften 1987 in Rom sowie bei den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart. Hinzu kamen dreimal Bronze bei den internationalen Großereignissen Olympische Spiele 1988, Weltmeisterschaften 1991 und Europameisterschaften 1990. Die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles entgingen ihm wegen des Boykotts der DDR, doch 1992 in Barcelona ging Gauder mit 37 Jahren noch einmal bei Olympia auf Platz sechs.
Den Kampf um sportliche Meriten hatte Gauder erfolgreich bestanden. Nur zwei Jahre nach dem Karriereende musste er jedoch seinen härtesten Kampf bestehen, den um sein Leben. Im März 1995 sank nach einer bakteriellen Infektion seine Herzleistungsfähigkeit gravierend. Nur eine Transplantation konnte ihn noch retten. Nach zwei Jahren quälenden Wartens erhielt er am 30. Januar 1997 ein Spenderorgan. In der Wartezeit musste er zehn Monate lang mit einem künstlichen Herzen leben.
Mit dem Kampfgeist des Olympiasiegers packte er sein Leben mit dem dritten Herzen an. Er schloss sein Architekturstudium ab und blieb dem Sport treu, engagierte sich ehrenamtlich für die Leichtathletik, absolvierte die Marathons in New York und Berlin und bestieg Japans höchsten Berg Fuji, um auf die Idee der Organspende aufmerksam zu machen. In Japan nutzte er seine Popularität, um für Sport, gesunde Bewegung und Organspende zu sensibilisieren. Gauder ist Mitgründer der Vereine Sportler für Organspende und Kinderhilfe Organtransplantation, die betroffene Familien unterstützen.
Größte Erfolge:
› Olympiasieger 1980
› Weltmeister 1987
› Europameister 1986
› Olympia-Bronze 1988
› WM-Bronze 1991
› EM-Bronze 1990
Auszeichnungen:
› Goldenes Band der Berliner Sportjournalisten 1999
› BMI-Preis für Toleranz und Fair Play im Sport 1998
› Georg von Opel-Preis „Die stillen Sieger“ in der Kategorie „Besondere Kämpfer“
1997
› Ehrennadel des DLV 1994
› Rudolf-Harbig-Preis des DLV 1993
› Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1989
› Vaterländischer Verdienstorden in Silber 1980 und 1984
› Vaterländischer Verdienstorden in Bronze 1988
› 1986 Stern der Völkerfreundschaft in Silber
Der Mann mit den drei Herzen
Diese Lebensgeschichte von einem, der alles gewonnen hat, diese doppelte Metamorphose vom gefeierten Olympiasieger zum todkranken Patienten zum unermüdlichen Herztransplantierten ist voll von Ausdauer, von nie endender Zuversicht und von erfüllter Hoffnung. Und dennoch spielen darin zwei Niederlagen entscheidende Rollen.
Karl-Marx-Stadt, im Frühjahr 1976: Hartwig Gauder hat sich bei der DDR-Olympiaausscheidung über 20 Kilometer Gehen vom Feld absetzen können, visiert seine ersten Olympischen Spiele an. Der 21 Jahre alte Junioren-Europameister aus Erfurt ist in dieser leichtathletischen Disziplin noch ein Jungspund. Er bereitet sich schon darauf vor, was er im Ziel den Reportern diktieren wird, denkt sich fiktive Interviews aus. So bleibt er auch später in den stundenlangen Wettbewerben „geistig wach“. Da reißt ihn ein Kampfrichter aus dem Traum: Disqualifikation wegen fehlerhafter Gehtechnik. Gauder will den Mann in den nahen Teich werfen. „Glücklicherweise haben Zuschauer ihn vor mir gerettet“, sagt er vierzig Jahre später. In Montreal gehen andere DDR-Athleten. Gauder grübelt derweil zu Hause und legt mit einer simplen Erkenntnis die Basis für seine großen Erfolge: „Der Kampfrichter ist nicht dein Gegner, er ist dein Partner.“
Zusammen mit Trainer Siegfried Herrmann feilt Gauder nun noch intensiver an der Technik, um des Gehers größtes Unbill zu vermeiden. „In meiner Karriere bin ich nur dreimal disqualifiziert worden.“ Gauder galt als einer der technisch Besten. So macht die erste Niederlage den großen Erfolg erst möglich. Vier Jahre später gewinnt er in Moskau olympisches Gold.
Berlin, im Frühjahr 1996: Hartwig Gauder liegt im Herzzentrum, schon seit Dezember. Die Herzleistung ist auf 16 Prozent gesunken, der Herzmuskel krankhaft erweitert. Er ist so schwach wie nie zuvor. Der Olympiasieger im Gehen kann nur noch zwanzig Meter alleine zurücklegen. Nicht die dunkle Seite des Leistungssports ist verantwortlich, wie einer der Ärzte mutmaßt, sondern, wie sich später herausstellt, in einer Hühnerzucht eingeatmete Bakterien. Der versteckte Vorwurf geht Gauder nahe. Als Sportler der ehemaligen DDR trage man einen Stempel, „den man ganz schwer loswird, selbst wenn man wie ich nie eines dieser Präparate genommen hat. In meiner extremen Situation hätte ich meinem Körper doch einen Bärendienst erwiesen, hätte ich Dopingmittel verschwiegen.“
Der Todkranke muss sich entscheiden: leben oder sterben. Gauder hängt an seinem Herz, will nicht transplantiert werden; seine Frau Marion, Zahnärztin, ist dafür. „Gut, dann musst du eben sterben“, sagt sie zu ihm und fährt zurück nach Erfurt in ihre Praxis. Er wartet fast so lange, wie 50 Kilometer Gehen dauern, dann ruft er seine Frau an, sagt, „du hast recht“ und hat die einzige Chance weiterzuleben erkannt. Eine zweite „Niederlage“, aus der Hartwig Gauder noch große Kraft schöpfen wird.
Nie steht sofort ein passendes Spenderorgan bereit. Tausende andere harren zusammen mit ihm aus, jeder Dritte stirbt dabei. Bei Gauder ist schnell klar, dass er die Wartezeit nur mit einem Kunstherz wird überbrücken können. Es wird an Ostern in den Bauchraum gepflanzt. Bei der Inbetriebnahme gibt es Komplikationen, Gauder wird ins künstliche Koma versetzt. Der Kampf um Leben und Tod, er wird noch intensiver. Zehn Monate überlebt Gauder dank der implantierten Pumpe. Damals Weltrekord. Der Freund und Radolympiasieger Mario Kummer besucht ihn in der Klinik, ein Bild entsteht, beide lachen. Bei Kummer wirkt es gequält, Gauder strahlt. Er gibt sich nur noch zwei Wochen zu leben, als am 30. Januar 1997 um 10.30 Uhr das Telefon im Herzzentrum klingelt. Eurotransplant, der länderübergreifende Verbund zur Verteilung von Organspenden, hat „ein Angebot“. Vier Stunden später liegt er im OP. 20 Monate nach der ersten Diagnose wird das kranke Herz ausgetauscht. Alles geht gut. Sein zweites Leben beginnt. Nach vier Tagen setzt er sich aufs Fahrradergometer.
Mehr als dreimal ist er im Training um die Welt gegangen, hat Gauder ausgerechnet. Es sei ihm nie zu viel geworden, auch nicht, wenn er monatelang auf den Hochplateaus in Mexiko und Äthiopien unterwegs war. „Lerne leiden, ohne zu klagen“, war sein erstes sportliches Motto. Geher erdulden wegen der ständigen Muskelanspannung mehr als Marathonläufer, sagt Gauder. „Du musst mit Schmerzen umgehen können.“ Sein zweiter Lehrsatz entstand anderthalb Jahre vor dem Olympiasieg: „Du musst so hart trainieren, dass du an deinem schwächsten Tag immer noch besser bist als die anderen.“ Gauder überließ nichts dem Zufall, plante bis ins kleinste Detail, ob bei der Trainingsbelastung, beim Schlaf, beim Essen, sogar bei der Massage: „Ich habe in Gedanken die Muskelstränge nachverfolgt.“
Zu erkennen wo seine Talente verborgen liegen, ist eine seiner Stärken. „In dem Moment, als der Sportlehrer sagte, ihr lauft jetzt nicht sechzig Meter, sondern dreimal um die Schule, habe ich die anderen locker abgehängt.“ Die Ausdauer ist ihm in die Wiege gelegt. Den Thüringer Wald hinterm Elternhaus in Ilmenau, versucht er sich im Skilanglauf und im Radfahren. Ein Freund nimmt ihn mit zum Gehen, die Trainer erkennen das Talent. Die Eltern wollen zunächst nicht, dass er auf die Kinder- und Jugend-Sportschule geht, doch der Sohn setzt sich durch. Erst 1990 erfährt Gauder, einst als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft gewesen zu sein, der Westverwandtschaft wegen. Die Eltern kamen 1960 aus Vaihingen/Enz in Württemberg nach Thüringen, hatten das Häuschen geerbt.
Deutschlands erfolgreichster Geher fühlt sich etlichen Orten eng verbunden. Natürlich Moskau, wo er seinen ersten und größten sportlichen Erfolg feierte. Am 30. Juli 1980 ist es brütend heiß in der Stadt, und über 50 Kilometer geht die gesamte Weltspitze an den Start; die Athleten aus den fern gebliebenen westlichen Ländern gehören nicht dazu. Die Italiener sind da, die Mexikaner, die Spanier, die Bulgaren, die Polen und natürlich die Geher aus der Sowjetunion. Gauder ist erst kurz vorher auf die Langdistanz gewechselt, Moskau ist sein vierter Wettkampf. Er ahnt, sein Körper ist dafür gemacht: 68 Kilo bei 1,86 Meter. „Für mich war klar, dass ich Olympiasieger werde.“ Nach 3:49:24 Stunden überquert er als Erster die Ziellinie. Olympischer Rekord. Der Geher Gauder wird von einem Reporter gefragt: „Wie ist es denn gelaufen?“ Er hat sich unterwegs schon darauf eingestellt, grinst und antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Wenn ich gelaufen wäre, stünde ich nicht hier!“
Auch New York ist „seine“ Stadt. Im Mai 1987 belegte er beim Weltcup Rang zwei hinter DDR-Kollege Ronald Weigel, dem anderen deutschen Ausnahmegeher. „Bei der Siegerehrung sagte ich zu ihm, ‚in diesem Jahr gewinnst du die kleinen und ich die großen Sachen‘“. Gauder behält Recht und holt am 5. September in Rom den WM-Titel vor Weigel. Bei jenem Weltcup in New York wird er von dem Freiwilligen Ron Barber betreut. Einem Herztransplantierten, was er damals nicht wusste. Zwischen dem US-Volunteer und dem deutschen Topathleten entsteht eine enge Freundschaft. Sie treffen sich mehrere Male beim New York Marathon und initiierten später ein Walking-Projekt für übergewichtige Amerikaner. Als Gauder 1996 mit dem Kunstherz im Bauch in der Klinik liegt, bekommt er einen Brief aus den USA: Der Freund sei vor einer Re-Transplantation des Herzens gestorben. Erst da erfährt er, dass Ron Barber das gleiche Schicksal teilte. – Hartwig Gauder legt ein Gelübde ab: Wenn ich alles überstanden habe, laufe ich in Erinnerung an Ron den New York Marathon. Am 1. November 1998 löst er sein Versprechen ein. Sein neues Herz trägt ihn nach 640 Tagen im Körper und 6:15 Stunden auf der Strecke ins Ziel.
Hartwig Gauder ist einer der wenigen Sportler, die in ihrer Karriere alle drei großen Titel gewinnen konnten: bei Olympia, bei Weltmeisterschaften und bei den kontinentalen Titelkämpfen. Europameister ist er 1986 in Stuttgart geworden, in der Nähe seines Geburtsorts. 1988 holte er in Seoul Olympiabronze und verabschiedete sich zum ersten Mal vom Leistungssport.
Er wollte sein 1974 begonnenes Architekturstudium fortsetzen, doch stattdessen musterte ihn die Nationale Volksarmee. „Man ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel.“ Schließlich konnte er doch studieren, aber das Auspowern fehlte ihm. Der Gedanke vom Rücktritt vom Rücktritt nahm Gestalt an. Er konnte es noch, wurde 1990 in Split Dritter der EM und 1991 in Tokio Dritter der WM. „Ein Riesenerfolg, ich hatte meine Karriere ja schon mal beendet, und es gab vorher keinen, der ausgestiegen und wieder so erfolgreich zurückgekommen war.“ Beim Abflug aus Tokio schaut Gauder aus dem Flugzeugfenster und sieht den symmetrischen Kegel des schneebedeckten Fuji. „Da will ich mal hochklettern“, sagt er zu sich, ohne zu wissen, dass er zwölf Jahre darauf warten muss.
Die Besteigung des 3.776 Meter hohen Vulkans plant Hartwig Gauder bis ins kleinste Detail, seine Frau und Sohn Marcus sind dabei. Er macht aus dieser Expedition eine Werbetour für den Organspendeausweis. Am 19. Juli 2003 ist er der erste Herztransplantierte auf dem Gipfel des heiligen Bergs der Japaner und demonstriert zehn Jahre nach der WM von Stuttgart, als er nach 35 Kilometern das Rennen und die Karriere beendet hatte, wie das Leben als Organtransplantierter sein kann. In Japan ist Gauder heute bekannter als in Deutschland. Mit Freund Vadim Kazuhito Koga hat er die „Hartwig Gauder Power Walking Association“ gegründet, berät Kommunen im Gesundheitsmanagement, veröffentlicht Bücher, verfasst Kolumnen für Tageszeitungen und war Botschafter von Tokios Olympiabewerbung. Für viele Japaner ist der „Mann mit dem dritten Herzen“ ein besonderer Motivator. Bei ihnen kommt sein drittes Lebensmotto an: „Fürchte dich nicht, langsam zu gehen, fürchte dich nur, stehen zu bleiben.“
Patienten auf der Warteliste für ein Organ schenkt Hartwig Gauder Hoffnung. Seine Geschichte macht bis heute in den Kliniken die Runde. Noch vor seiner Transplantation meldet er sich beim 1994 lebertransplantierten Tischtennis-Ehrenpräsidenten Hans Wilhelm Gäb, der gerade die „Sportler für Organspende“ zusammentrommelt: „Wenn ich transplantiert bin, helfe ich mit.“ Er hält Wort, ist seit 1998 im Vorstand des Vereins, hat 2004 die Kinderhilfe Organtransplantation mitgegründet und hilft aktiv anderen Betroffenen. Er ist Schirmherr der Deutschen Sepsis-Gesellschaft und sprüht vor Ideen, wenn es um das Thema Gesundheit geht. Als müsste er sich jeden Tag das Leben neu beweisen. Hartwig Gauder ist „heute glücklicher als vor meiner Transplantation“. Vermutlich auch wegen der im Sport erarbeiteten Belastbarkeit hat er die Zeit in der Klinik überstanden. Sie hat ihn verändert und vor allem eines gelehrt: Demut. Die größte Leistung, das sagt er immer wieder, habe in all den Jahren nicht er vollbracht, sondern seine Frau.
Oliver Kauer-Berk, Juli 2016
Literatur zu Hartwig Gauder:
Hartwig Gauder, Angelika Griebner: Zwei Leben, drei Herzen. Vom Olymp zum Heiligen Berg. München 2007.
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